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Projekt des Monats April: Ein Demenz-Stammtisch vermittelt in der Südwestpfalz Zusammenhalt und Sicherheit

Vor sieben Jahren gründete sich in Pirmasens in der Südwestpfalz ein Demenz-Stammtisch. Seitdem treffen sich bei diesem regelmäßig 15 bis 20 Menschen, begleitet von einer hauptamtlichen und drei freiwillig engagierten Personen, die alle einen engen persönlichen Bezug zu einer demenziellen Erkrankung im Familien- oder Freundeskreis haben.

Eine demenzielle Erkrankung verändert das Leben für Betroffene und ihre Angehörigen tiefgreifend. Umso wichtiger sind Kontakte und Begegnungen für einen geschützten Austausch untereinander, aber auch um einfach weiter am Leben teilzuhaben – trotz möglicher Einschränkungen durch die Demenz. Im Landkreis Südwestpfalz mit knapp 100.000 Einwohnern ist die kreisfreie Stadt Pirmasens Sitz der Kreisverwaltung, in der auch die Leitstelle „Älter werden“ angesiedelt ist. Diese wird von Karina Frisch (50) geleitet. Seit 2014 arbeitet sie unter anderem mit Edda Mertz (75) von der Alzheimer Selbsthilfegruppe Pirmasens und Vorstandsmitglied der Alzheimer Gesellschaft Rheinland-Pfalz, für den Demenz-Stammtisch. Im Interview geben die haupt- bzw. ehrenamtliche Initiatorinnen des Demenz-Stammtisches einen Einblick in ihre Tätigkeit für eine Gruppe von Menschen, die immer häufiger in den Nachbarschaften zu finden ist.

 Karina Frisch und Edda Mertz (Foto: privat)

Können Sie sich noch an den ersten Demenz-Stammtisch vor sieben Jahren erinnern? Was haben Sie erwartet und wie sind die ersten Begegnungen ausgefallen?

Frisch: Ja, wir wollten den Angehörigen von Menschen mit Demenz, die an den Schulungen der Alzheimer Gesellschaft Rheinland-Pfalz teilgenommen hatten, auch nach dieser Vortragsreihe eine Plattform zum Erfahrungsaustausch geben. Die Idee, einen „Stammtisch“ zu initiieren, kam dann von Edda Mertz, die 1994 die Alzheimer Selbsthilfegruppe Pirmasens gegründet hat. Wir hatten bei der damaligen Schulung 42 Teilnehmende und konnten dort bereits den geplanten Stammtisch bewerben. Der Stammtisch wurde dann schon von Beginn an von den Angehörigen mit ihren Erkrankten angenommen. Das waren sehr positive Erfahrungen und wir haben erkannt, wie wichtig das Angebot ist.

„Das Thema Demenz ist leider immer noch nicht in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen“

Welche Motivation steckte hinter Ihrer Idee, Frau Mertz?

Mertz: Das Thema Demenz ist leider immer noch nicht in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen. Menschen mit Demenz und auch ihre Angehörigen möchten aber trotz der Erkrankung weiterhin am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und teilhaben. Der Besuch eines alt eingesessenen Lokals und Cafés, wo unser Stammtisch gerne bei einem Stück Kuchen stattfindet, ist ein monatliches Highlight.

… und bei laufendem Betrieb fühlt sich dort niemand gestört?

Frisch: Wir treffen uns in einem Nebenzimmer, sodass wir ungestört miteinander reden können, dieser geschützte Rahmen ist sehr wichtig. Wir lachen auch viel miteinander, das tut den Erkrankten sehr gut. Oft wurden auch schon Lieder angestimmt oder Gedichte vorgetragen. Auch die Servicekräfte des Cafés haben sich gut auf uns eingestellt und verhalten sich sehr rücksichtsvoll. Es wäre schön, wenn solche Stammtische in allen sieben Verbandsgemeinden unseres Landkreises stattfinden könnten, gerne auch mit ehrenamtlicher Begleitung.

Welche Themen prägen so einen Stammtisch? Gibt es bestimmte Rituale, wenn Sie sich treffen?

Mertz: Viele Angehörige kommen schon seit mehreren Jahren zum Stammtisch und sind „Expertinnen und Experten in eigener Sache“. Es läuft in der Regel so, dass wir mit einer Begrüßungsrunde anfangen und die Situation, wie sie im Moment ist, geschildert wird. Wenn bestimmte Themen anstehen, werden sie im Anschluss besprochen. Diese reichen vom Pflegegrad bis zur Tagespflege. Es können aber auch sehr persönliche Dinge sein.

„Der Blick in vertraute Gesichter vermittelt Sicherheit“

Sie sprechen Betroffene und Angehörige gleichermaßen an. Wie reagieren diese auf das Treffen und welche Dynamiken entwickeln sich dabei?

Frisch: Wir haben einen sehr vertrauensvollen und freundschaftlichen Umgang miteinander und fühlen uns eng verbunden. Viele von uns sind über Telefon oder WhatsApp miteinander vernetzt, auch Freundschaften sind entstanden. Es finden gemeinsame Unternehmungen statt und zwei Ehepaare sind sogar schon miteinander verreist.
Auch unsere an Demenz Erkrankten fühlen sich sehr wohl in der Gruppe und werden immer durch eine persönliche Ansprache mit einbezogen. Sie haben oft noch viele Fähigkeiten, die immer wieder zum Vorschein kommen. Der Blick in vertraute Gesichter vermittelt ihnen Sicherheit.

Wie setzt sich die Gruppe der Angehörigen zusammen?

Mertz: Es hält sich etwa die Waage zwischen den Eheleuten und Kindern. Ihre Fragen bezüglich der Erkrankung, dem Umgang damit und den Hilfemöglichkeiten gleichen sich aber.

Großer Zusammenhalt und moralische Unterstützung – Ende April geht der Stammtisch auch Online

Ein Stammtisch lebt natürlich von den persönlichen Treffen, wie ist es Ihnen in der Corona-Pandemie ergangen? Welche Veränderungen sind eingetreten?

Frisch: Die Treffen fanden vor der Pandemie regelmäßig einmal im Monat statt. Unter Hygienebedingungen konnten dann zunächst noch drei Treffen mit Abstand im Nebenzimmer des Cafés stattfinden, bis dann im November der Lockdown kam.
Persönlich sehr getroffen hat uns in dieser Zeit, dass im letzten Jahr vier erkrankte Ehepartner bzw. Ehepartnerinnen unserer Angehörigen verstorben sind. Es war aber sehr schön zu spüren, wie groß der Zusammenhalt und die gegenseitige moralische Unterstützung in dieser Situation war.

Mertz: Um den persönlichen Kontakt in der Pandemie aufrechtzuerhalten, haben wir vergangenen Sommer eine Grußkarte mit einem Schutzengel verschickt, um den Teilnehmenden zu zeigen, dass wir an sie denken. Im Advent haben wir dann leuchtende Adventskalender verschickt und an Ostern einen Kartengruß. Leider müssen wir uns noch ein bisschen gedulden, bis die nächsten Treffen stattfinden können. In der Zwischenzeit haben wir aber einen Zoom-Stammtisch geplant.

Wie wird dieser aussehen und wann wird er stattfinden?

Frisch: Der Stammtisch an sich ist ein offenes Angebot für An- und Zugehörige von Menschen mit Demenz. Die Online-Angehörigengruppe soll eine Ergänzung sein und in der derzeitigen Situation weiterhin eine Möglichkeit zum Austausch bieten. Edda Mertz und Christoph Prost, beide Vorstandsmitglieder der Alzheimer-Gesellschaft Rheinland-Pfalz, werden dieses Angebot unterstützen.

Ende April findet das erste digitale Treffen statt, dann alle 14 Tage immer via Zoom. Ich habe damit bereits sehr gute Erfahrungen mit einem Online-Angebot für Menschen mit psychischen Erkrankungen gemacht, auf die ich dabei zurückgreifen kann.

Beworben bzw. bekanntgemacht haben wir die Online-Gruppe im Netzwerk Demenz, über die Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfe „KISS-Pfalz“, über Social Media und in der Presse. Bei der Technik werden wir durch Bernd Strassel unterstützt, einem Mitarbeiter der Kreisvolkshochschule, der als Content Creator auch unsere Homepage betreut.

Denken Sie, dass digitale Angebote auch über die Pandemiezeit hinweg regelmäßig zum Einsatz kommen werden? Und wie bewerkstelligen Sie den technischen Support für die Online-Stammtischmitglieder?

Frisch: Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass ein digitales Angebot zum Erfahrungsaustausch auch nach der Pandemiezeit beibehalten wird. Dies kann natürlich keinen persönlichen Kontakt ersetzen und auch nicht das gemütliche Beisammensein, aber es ist eine gute weitere Ergänzung. Alle, die sich für diese neue Kontaktmöglichkeit interessieren, werden von uns auch gerne bei technischen Fragen unterstützt.

Haben sich durch die Pandemie die Stammtisch-Themen rund um das Thema Demenz auch verändert?

Frisch:Verschiedene Beratungsaspekte haben durch die Pandemie sogar an Bedeutung gewonnen. Gibt es etwa eine Vorsorgevollmacht, damit präventiv etwas getan werden kann, falls ein unvorhersehbarer Krankenhausaufenthalt des Erkrankten ansteht? Nie an Bedeutung verliert etwa das Thema Biografiearbeit. Diese ist eine wesentliche Stütze im Zusammensein mit demenziell erkrankten Menschen.

Mertz: Ein weiteres Thema, das die Angehörigen sehr interessiert, sind die Beschäftigungsangebote für Menschen mit Demenz. Diese werden immer wieder angefragt und es gibt wirklich schöne und abwechslungsreiche Angebote wie zum Beispiel das „Gelingt-immer-Puzzle“ oder die „Sprichwort-Box“. Es ist sehr wichtig, sich früh genug mit der Erkrankung auseinanderzusetzen. Nicht minder wichtig ist es aber auch Hilfe und Unterstützung anzunehmen, damit die versorgenden Angehörigen auch immer wieder Kraft schöpfen können.

Welche Förderungen haben Ihnen beim Aufbau und der Durchführung Ihrer Arbeit bisher am meisten geholfen?

Frisch: Die Leitstelle „Älter werden“ wurde vor über 25 Jahren beim Landkreis Südwestpfalz eingerichtet, mit dem Ziel, ältere Menschen zu beraten und zu unterstützen. Hier stehen daher auch Haushaltsmittel der Kommune zur Verfügung. Da auch das Thema Demenz einen hohen Stellenwert besitzt, nimmt die Kreisverwaltung zudem an der neuen Förderwelle des Bundesprogramms Lokale Allianzen für Menschen mit Demenz teil.

Gibt es Erlebnisse aus Ihrer Arbeit, die sie besonders bewegen bzw. an die sie besondere Erinnerungen haben?

Frisch: Gerne erinnere ich mich an den bunten Nachmittag im Zweibrücker Rosengarten 2016, an dem 120 Personen teilgenommen haben. Der Demenz-Stammtisch und die Einrichtungen in unserer Region, Mobile Soziale Dienste, Tagesstätten und private Personen waren mit ihren erkrankten Bewohnerinnen und Bewohnern, Tagesgästen und Angehörigen für ein schönes Treffen zusammengekommen.

Mertz: Auch die „Bunten Nachmittage“ in den darauffolgenden Jahren mit fast hundert Teilnehmenden waren schön und bewegend. Sehr beeindruckend war etwa, wie Live-Musik ein Lächeln auf die Gesichter der Betroffenen gezaubert hat. Es wurde mitgesungen, getanzt und geschunkelt. Diese Veranstaltungen fehlen uns jetzt natürlich sehr.

Mit weiteren Akteuren im Bereich Demenz vernetzen

Welche Netzwerke sind für Ihre Arbeit besonders wichtig und welche können Sie sich vorstellen noch neu zu knüpfen?

Frisch: Zunächst einmal ist unsere Vernetzung vor Ort wirklich gut. Im Netzwerk Ehrenamt Südwestpfalz und dem Netzwerk Demenz für die Versorgungsregion arbeiten wir eng mit vielen Partnern zusammen. Dazu gehören die Pflegestützpunkte, die Compass Private Pflegeberatung, das Krankenhaus, Mobile Soziale Dienste, stationäre Einrichtungen, Seniorenbüros, das Mehrgenerationenhaus, das Netzwerk Betriebliches Gesundheits- und Vereinbarkeitsmanagement, die Hochschule, Betreuungsvereine und die Pflegestrukturplanung.

Zudem ist das neue Landesnetzwerk „Anlaufstellen für ältere Menschen“, das von der Bundesarbeitsgemeinschaft Seniorenbüros (BaS) begleitet wird, sehr hilfreich. Hier findet ein sehr guter Austausch zwischen den verschiedenen Anlaufstellen auf Landesebene statt.

Sehr gut funktioniert hat in den vergangenen Monaten auch die bundesweite Online-Vernetzung über die BaS und die Lokalen Allianzen für Menschen mit Demenz. Vor Ort, also in Bonn oder Berlin, wären diese Treffen bestimmt nicht möglich gewesen.

Es wäre schön, wenn eine Vernetzung mit weiteren Akteuren zustande kommen würde, die Interesse an Projekten für Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen haben.

Vom digitalen Durchbruch überrollt – es gilt Defizite aufzuholen

Wie stellen Sie sich die Entwicklung Ihrer Arbeit in den kommenden Jahren vor? Welche Ziele haben Sie sich gesteckt und was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Frisch: Ich möchte weiterhin auch für die älteren Menschen erreichbar sein, die keine digitalen Möglichkeiten nutzen können oder wollen. Trotzdem sehe ich die digitale Entwicklung in großen Schritten auf uns zukommen. Gerne zitiere ich einen Bekannten: „Der digitale Durchbruch hat uns am Anfang der Pandemie quasi über Nacht überrollt; jetzt müssen wir noch zehn Jahre Defizite aufholen“. Da steckt viel Wahrheit dahinter.

Mertz: Das Thema Demenz ist für mich eine Herzensangelegenheit. Ich habe außer der Alzheimer Selbsthilfegruppe in Pirmasens viele Jahre lang zwei Tanzcafés mit Livemusik für Menschen mit Demenz in zwei Einrichtungen organisiert. Diese fehlen mir natürlich sehr. Die wohltuende Wirkung von Musik auf Menschen mit Demenz ist bekannt. Sie kann ein Gefühl der Vertrautheit auslösen und schöne Erinnerungen an Erlebtes wecken. Ich hoffe, dass diese Veranstaltungen bald wieder stattfinden können.

Vielen Dank für das Interview Frau Mertz und Frau Frisch.


Weitere Tipps und Informationen:

Selbstdarstellung des Projektes auf der Webseite der Landesinitiative, die Projekt-Hompage sowie die Homepage der Seniorenzeitschrift Herbstwind und die Homepage "Gut leben im Alter in der Südwestpfalz"

Broschüren zu Demenz-Themen der Landeszentrale für Gesundheitsförderung in Rheinland-Pfalz e.V. etwa zu Menschen mit Demenz im Krankenhaus oder zur Biografiearbeit.

Beschäftigungsangebote wie etwa das im Interview erwähnte Puzzle oder die Sprichwort-Box sind z.B. beim SingLiesl-Verlag erhältlich.