Die ausgebildeten Krankenpfleger Christian Döring (41) aus Obersayn – heute tätig als Dozent sowie im Gesundheitsamt – und Björn Flick (40) aus Oberroßbach, der als Pflegedienstleiter in der ambulanten Pflege arbeitet, hatten eine einfache Idee: Sie gründeten eine kleine Facebook-Gruppe, um Hilfe zu leisten. Daraus ist nicht nur schnell ein aktiver Verein entstanden, sondern auch die Facebook-Gruppe ist rasant gewachsen und hat heute bereits mehr als 7300 Mitglieder. Die beiden alten Freunde, die auch die Vereinsvorsitzenden von „Wäller helfen“ sind, berichten im Interview von ihren Erfahrungen und Plänen, die sie innerhalb noch nicht einmal eines Jahres seit Beginn ihres Engagements gemacht haben. Doch nicht nur ihr freiwilliges Engagement hat ein beträchtliches Ausmaß in ihrem Leben eingenommen, auch der Wirkungsradius ihres Vereins erstreckt sich weit – über die vier Westerwälder Landkreise Altenkirchen, Limburg-Weilburg, Neuwied und Westerwaldkreis.
Björn Flick (l.) und Christian Döring
„Ein neues Gefühl der Zusammengehörigkeit“
Ihr nachbarschaftliches Engagement ist im März letzten Jahres gestartet – ich nehme einmal an, das fällt nicht zufällig mit dem ersten Lockdown der Corona-Pandemie zusammen?
Döring: Es war eine spontane Idee, die bereits samstags vor dem Lockdown auf dem Sofa entstanden ist. Eigentlich habe ich mir nur überlegt eine kleine Facebook-Gruppe zu gründen, um im Bekanntenkreis zu helfen. Björn war auch sofort mit dabei. Dass wir fünf Tage später schon 5000 Mitglieder hatten, war dann aber schon überwältigend.
Flick: Überwältigend waren auch die Hilfsangebote, immer nach dem Motto „Wir Wäller schaffen das!“ Es entstand ein neues Gefühl von Zusammengehörigkeit.
Döring: Die Resonanz war riesig und kam aus dem ganzen Westerwald, der sich geografisch über vier Landkreise und bis ins benachbarte Hessen erstreckt – also ein sehr großes Gebiet. Das ganze Projekt war dann auch schnell mit viel Arbeit verbunden und hier waren wir dann natürlich ebenfalls auf die Unterstützung von vielen anderen angewiesen. Zugleich kamen aber auch schon erste Spenden und uns war klar, dass wir sehr schnell einen Verein gründen müssen.
„Auch Menschen aus der Risikogruppe möchten helfen“
Auf der Vereinswebseite befindet sich auch ein eigener Menüpunkt „Corona Hilfen“. Wie hat die Pandemie im Laufe des vergangenen Jahres Ihre Arbeit geprägt oder verändert?
Döring:Am Anfang ging es wirklich erst einmal nur ums Einkaufen und Hilfestellung für Menschen, die aus Risikogruppen kommen. Schnell wurden aber auch weitere Probleme offenkundig: Die Tafeln waren geschlossen, Kinder im Home-Schooling, Bürgerbusse fuhren nicht mehr, Besuchsverbote in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen – hier hat sich zum Glück schnell ein festes Team von 30 Menschen zusammengefunden, die andere Menschen mit Problemen unterstützen wollten. Der Verein hat sich innerhalb nur einer Woche mit acht Personen formal konstituiert, ist mittlerweile aber auch bereits wieder gewachsen.
Im Verlauf des Jahres hat sich dann auch immer wieder einiges geändert. Derzeit kommen zum Beispiel vermehrt Hilfegesuche von Menschen aus der Quarantäne, um mit deren Hunden Gassi zu gehen oder Besorgungsfahrten zu erledigen. Aber auch die Einsamkeit macht manchen Menschen zu schaffen. Hier hilft etwa unser Telefondienst für Menschen, die reden möchten. Da ist auch unser ältestes Mitglied mit über 90 Jahren engagiert dabei. Ja, auch Menschen aus der Risikogruppe möchten helfen.
Haben Sie derzeit auch schon Anfragen, die sich auf die anstehenden Corona-Impfungen beziehen? Und wie unterstützen Sie in diesem Zusammenhang?
Döring: Ja, uns erreichen derzeit Anfragen, um Menschen zu den Impfzentren zu fahren. Wir beide informieren am Telefon und vermitteln dann auch Kontakte zu diversen Nachbarschaftshilfen, zu Bürgerbussen und anderen Vereinen, die hier ihre Hilfen anbieten.
Vernetzung und Hilfe zur Selbsthilfe
Es fällt auf, dass Ihre Vereinswebseite ziemlich aufwendig gestaltet ist, zum Beispiel mit einer Google-Maps-Karte, auf der alle Hilfsangebote mit Kontakten und Kontaktzeiten vor Ort hinterlegt sind, oder einem digitalen Marktplatz. Wie wichtig sind Ihnen die digitale Arbeit und Vernetzung bzw. Angebote? Erreichen Sie auf diesem Weg auch alle Vereinsmitglieder und Hilfebedürftigen?
Döring: In der heutigen Zeit läuft viel über die digitalen Medien. Auch wenn besonders ältere Menschen nicht online sind, können wir immer schnell auf unser Netzwerk zurückgreifen. Ältere Personen melden sich häufig telefonisch. Dafür wurde eine 0800er Nummer geschaltet, unter der Björn oder ich erreicht werden. Wir arbeiten derzeit noch an einer Menüsteuerung, sodass bei einem eingehenden Anruf besser zugeordnet werden kann, ob es etwa um eine konkrete Hilfeanfrage geht oder aber einfach nur ein Gespräch gesucht wird etc. Diese Telefonate und die darauffolgenden Kontaktvermittlungen oder Hilfsangebote, das ist alles mit sehr viel Zeit für uns verbunden. Wir hoffen, dass wir uns weiter mit anderen Gruppen aber auch den Gemeinden und Verbandsgemeinden vernetzen können, um so die Arbeit besser zu verteilen. Im Grunde möchten wir eine Plattform zur Vernetzung sein und kein Ersatz für örtliche Nachbarschaftshilfegruppen. Ohne deren Arbeit könnten wir gar nicht existieren. Vernetzung ist unser Motto.
Flick: Die digitalen Medien helfen uns dabei, in kurzer Zeit Hilfsangebote schnell zu vermitteln. Gleichzeitig bildet unsere Plattformen die Möglichkeit, dass die Helfer und Helferinnen und die Hilfesuchenden sich selbst finden können und uns so ein Stück Arbeit abnehmen. Hilfe zur Selbsthilfe ist eine wichtige Säule unserer Arbeit.
Großer Posten im Vereinshaushalt: IT und digitales Netzwerk
Wer verantwortet denn die Umsetzung der digitalen Angebote?
Flick: Die digitalen Angebote werden von einem Webmaster und einer IT-Firma programmiert und gehostet, die Inhalte werden sowohl vom Webmaster als auch von uns selbst eingepflegt.
Döring: Es helfen uns aber auch viele Menschen ehrenamtlich. Trotzdem ist die IT und das digitale Netzwerk ein sehr großer Posten in unserem Vereinshaushalt.
Wie kam es zu den Videogrußbotschaften von Prominenten auf der Vereinswebseite, etwa der SchlagersängerInnen Jürgen Drews, Ikke Hüftgold und Nicole oder der Ministerin Sabine Bätzing-Lichtenthäler. Was bewirken solch prominente UnterstützerInnen?
Flick: Die Prominenten steigern nicht nur den Bekanntheitsgrad, sondern stärken auch die Wichtigkeit und Ernsthaftigkeit der Sache. Wir arbeiten eng mit den Landes-, Kreis- und Verbandsgemeindegremien zusammen, das funktioniert nur umso besser, wenn man hier wichtige Kontakte pflegt. Ein großer Unterstützer ist etwa der Visionär und Botschafter sowie Stiftungsgründer von „Fly & Help“ Rainer Meutsch, dessen Stiftung mithilfe von Spenden weltweit neue Schulen und Kindergärten errichtet. Was Herr Meutsch weltweit macht, machen wir im Prinzip mit anderen Projekten auf kleiner Ebene.
„Überwältigende Resonanz und großartige Momente“
Vergangenen Dezember hatten Sie mit einem digitalen Adventskalender ein besonderes Angebot: Mit jedem geöffnetem Türchen wurden 100 Euro an benachteiligte oder hilfsbedürftige Personen im Westerwald, die zuvor im November vorgeschlagen werden konnten, verlost. Auch die Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen haben Sie mit einer Überraschung bedacht. Wie kamen Sie auf diese Aktion und wie war die Resonanz darauf?
Döring: Wir wollten mit den vielen Spenden neben unserer eigentlichen Arbeit auch andere Organisationen und Gruppen unterstützen. Denn einige Anfragen werden auch von uns an andere Gruppen vermittelt, zum Beispiel an Tafeln, Lebensmittelrettern oder andere Hilfsorganisationen. Aber auch diese Einrichtungen haben unter der Pandemie sehr gelitten. So wollten wir gerade den Behindertenwohnheimen eine Freude in den Krisenzeiten machen.
Flick: Die Resonanz auf die Aktion war überwältigend, wir haben sehr viele großartige und emotionale Momente erleben dürfen. Wir sind stolz, mit unserer Arbeit Unterstützung und Hilfe gerade den Menschen bieten zu können, denen das Leben im Augenblick nicht so großartig mitspielt. Da wir aufgrund unseres beruflichen Netzwerkes auch bestimmte Problem- und Randgruppen kennen, haben wir uns gerade hier auch nochmals stark gemacht.
Döring: Wir fühlen uns durch die positive Resonanz auch in unserer Arbeit bestärkt. Wäller helfen möchte vernetzen und regional unterstützen. Dazu zählen alle Menschen: zuhause oder in Pflegeeinrichtungen, Wäller oder Zugezogene, Menschen, die Platt schwätzen oder einen ausländischen Akzent haben – wir alle sind Wäller. Wenn wir zusammenstehen, können wir uns auch über Corona hinaus unterstützen.
„Ein Lernprozess, der hoffentlich nie aufhört“
Seit Ihrer Idee eine Facebook-Gruppe zu gründen ist noch nicht einmal ein Jahr vergangen. Ihr Bekanntheitsgrad geht längst über den Westerwald hinaus und Sie haben heute bereits rund 7300 Mitglieder in der Facebook-Gruppe. Fühlen Sie sich manchmal von Ihrem eigenen Erfolg überrollt? Wie kanalisieren Sie Anfragen bzw. welche Strukturen müssen Sie anpassen, verändern oder neu aufbauen?
Flick: Überrollt fühlen wir uns nicht. Wir sind froh, bei uns Strukturen und infrastrukturelle Probleme in der Region aufgedeckt zu haben, bei denen die Politik manchmal noch die Augen verschließt. Anfragen werden weiterhin über die Hotline, E-Mail oder die Facebook-Gruppe aufgenommen und entsprechend unserer Netzwerkstrukturen kanalisiert. Es war und ist immer noch für uns ein Lernprozess, der hoffentlich nie aufhört. Denn was wir hier alle voneinander lernen, stärkt nicht nur den Zusammenhalt, sondern auch dass Wir-Gefühl der Region.
Würden Sie rückblickend heute alles genauso wieder machen?
Döring: Von der Idee ja – von der Umsetzung her hätte einiges besser laufen können. Aber aus Fehlern lernen wir und das wichtigste war und ist: Hilfe und Unterstützung vermitteln – und das hat immer geklappt.
Flick: Ich finde, dass die Struktur im Verein eindeutig geregelt sein muss, damit die Arbeit gut funktioniert. Die Zusammenarbeit mit Partnern ist zwar auch sehr wichtig und sinnvoll, doch sollte sich jeder auf seinem Gebiet, mit seinen Stärken fokussieren. Der Austausch untereinander ist wichtig, aber wir haben die Erfahrung gemacht, dass eine Vermischung von Verantwortung und Aufgaben auch Schwierigkeiten bereitet hat.
Vernetzung stärken und Nachbarschaft ins Bewusstsein rufen
Welche Ziele haben Sie sich für dieses Jahr gesetzt und womöglich auch darüber hinaus?
Döring: Wir möchten uns noch besser vernetzen und arbeiten daran, dass Wäller helfen nicht als Konkurrenz zu anderen Nachbarschaftshilfen wahrgenommen wird. Zudem möchten wir den Online-Marktplatz für Hilfsangebote und -gesuche bekannter machen, um uns so etwas Vermittlungsarbeit zu sparen, da sich über den Marktplatz die Mitglieder selbst finden können. Wir planen außerdem Patenschaften zwischen Kindergärten und Senioreneinrichtungen zu unterstützen.
Flick: Wir möchten die Hilfe zur Selbsthilfe weiter stärken und die Wahrnehmung für andere „Nachbarn“ wieder ins Bewusstsein rufen. Mit gezielten Aktionen möchten wir die Menschen und Einrichtungen der Region weiterhin unterstützen und stärken. Ein langfristiges Ziel ist es, die infrastrukturellen Probleme mit Politik und Kommunen neu zu bewerten. Hier gilt es Lösungen und neue Ansätze zu finden, damit auch Menschen in strukturschwachen Regionen auf dem Land besser versorgt werden können.
Vielen Dank für das Gespräch Herr Flick und Herr Döring!
Weitere Informationen unter: https://waellerhelfen.de/