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Projekt des Monats August: In den Orten der Verbandsgemeinde Daun werden Visionen zur Wirklichkeit

Vier Prozent der Bürgerinnen und Bürger in der Verbandsgemeinde Daun engagieren sich im Verein Bürger für Bürger. Sie wollen aktiv die Zukunft in den 48 Gemeinden im Landkreis der Vulkaneifel gestalten. Dafür haben sie Visionen für alle Generationen entwickelt, die nun systematisch umgesetzt werden.

Vor acht Jahren gegründet, kann der Verein heute beeindruckende Zahlen vorlegen. Es gibt rund 750 aktive Vereinsmitglieder und die Zahl wächst weiter. Mitinitiator und Gründungsmitglied Gerd Becker ist zuversichtlich, dass in einem halben Jahr – also noch weit vor dem 10-jährigen Jubiläum – die Mitgliederzahl auf 1000 anwächst. Die Vereinsmitglieder kommen aus fast allen Orten der Verandsgemeinde Daun mit knapp 23.000 Einwohnern. Derzeit sind etwa 60 Helfende im Einsatz für 130 Hilfesuchende. Allein 2019 kamen so 4000 Einsatzstunden mit Hilfeleistungen zustande. Zum Erfolgsrezept der Vereinsarbeit gehört die starke Verwurzelung in den Gemeinden. Dort werden Visionen gemeinsam entwickelt und auch umgesetzt. Becker, ehemaliger Büroleiter in der Verbandsgemeinde, begleitet den Wandel in den Orten seit der Vereinsgründung. Der 75jährige 1. Vorsitzende des Vereins erklärt im Interview die Bausteine des Erfolges, berichtet von dem, was erreicht wurde, und vor welchen Herausforderungen die Gemeinden und der Verein noch stehen.

 Gerd Becker (Foto: privat)

Herr Becker, die Verbandsgemeinde Daun, in der Ihr Verein verortet ist, erstreckt sich über einen großen, ländlich geprägten Raum. Ist diese Region zukunftsfest aufgestellt, was zum Beispiel die nachbarschaftlichen Strukturen angeht?

Becker: Unsere Verbandsgemeinde befindet sich seit 2010 in einem ambitionierten Veränderungsprozesses unter dem Motto „Wandel erfolgreich gestalten“. Kommuniziert wird dies unter dem Akronym „WEGE“ und wird darunter auch immer bekannter. Charismatischer Vorreiter des WEGE-Prozesses ist unser ehemaliger Verbandsgemeinde-Bürgermeister Werner Klöckner. Er hatte als einer der ersten in unserer Region die Vision, dass es sich lohnt, in den kreativen und bodenständigen Köpfen der Menschen der insgesamt 48 Orte seines Zuständigkeitsgebietes einen Wandel zu initiieren. Und er blickte dabei über die gängigen Parteigrenzen hinweg. „Bei uns ist doch noch alles in Ordnung“, lautete ein häufiger Reflex von Gemeinderäten und Bürgermeistern zu Beginn des WEGE-Prozesses. „Doch wie lange noch?“ lautete die einfache Gegenfrage. Und schnell wurde klar, dass es familiäre, nachbarschaftliche und dörfliche Strukturen 2030 nicht mehr in gewohnter Weise geben wird.

„Von dem, was wir uns vorgenommen haben, haben wir bisher etwa 40 Prozent erreicht“

Ihr Vereinsziel ist es ja, sich zu einer „Sorgenden Gemeinschaft“ zu entwickeln. Was hat es damit auf sich und wie weit sind Sie bisher gekommen?

Becker: Dank der finanziellen und ideellen Förderung des bundesweiten Wettbewerbs „Engagierte Stadt“ haben wir uns seit 2016 auf den Weg gemacht mit dem Ziel, systematisch Sorgende Gemeinschaften aufzubauen. Unser Ziel ist es, bis 2030 in allen 48 Orten unserer Verbandsgemeinde die Zukunft des Zusammenlebens weiterzuentwickeln und den Aufbau Sorgender Gemeinschaften nachhaltig zu fördern und zu unterstützen. An die Stelle des ehrenamtlichen Engagements tritt die Sorgende Gemeinschaft, also eine Gemeinschaft der gegenseitigen Selbstverpflichtung von Bürgerinnen und Bürgern.

Wir möchten die Lebensqualität und -zufriedenheit aller Dorfbewohner und -bewohnerinnen kontinuierlich fördern und somit vor allem auch erreichen, dass die jüngere Generation in ihrer Heimat bleibt und nicht wegzieht. Ich würde sagen, von dem, was wir uns vorgenommen haben, haben wir bisher etwa 40 Prozent erreicht.

„Bis 2030 haben sich alle Orte der Verbandsgemeinde Daun zu selbstständig organisierten Sorgenden Gemeinschaften gewandelt“

Wie gehen Sie konkret vor bei dem Aufbau der Sorgenden Gemeinschaften?

Becker: Alle unsere Partnerinnen und Partner – von der Verbandsgemeinde über Caritas und Rotes Kreuz bis hin zur Sparkasse und örtlichen Bank – haben sich zunächst mit dem Prinzip des Gemeinsamen Wirkens auseinandergesetzt. Danach haben wir Visionen und Ziele miteinander verabredet. So soll etwa bis zum Jahr 2030 jede Person in der Verbandsgemeinde Daun in ihrer gewohnten Umgebung verbleiben – trotz Pflege- und Unterstützungsbedarf. Auch der Bedarf an stationären Pflegeplätzen ist gegenüber dem Status quo von 2016 im Jahr 2030 nicht größer geworden. Ganz konkret hat hier zum Beispiel in der Gemeinde Gillenfeld die Genossenschaft am Pulvermaar eG – eine ehrenamtliche Initiative – den Florinshof errichtet. Das ist ein Haus mit 13 Wohneinheiten und die Hausgemeinschaft bildet eine Sorgende Gemeinschaft. Eine weitere Vision ist, dass gegenüber dem Status quo von 2016 im Jahr 2030 mehr Familien in der Verbandsgemeinde Daun leben und die Fertilitätsrate bei 2,1 liegt. Das heißt, unsere Gesamteinwohnerzahl schrumpft nicht mehr. Zugleich ist unter den Jugendlichen und jungen Erwachsenen (15–29 Jahre) die Bereitschaft für das Bleiben und Zurückkehren signifikant gestiegen. Die Zahl der „Bleibewoller“ und „Rückkehrwoller“ der Altersklassen vom dritten bis zum 13. Schuljahr hat sich im Jahr 2030 um 100 Prozent im Vergleich zu 2016 gesteigert, so unserer Vision. Zudem haben sich bis 2030 alle Orte der Verbandsgemeinde Daun zu selbstständig organisierten Sorgenden Gemeinschaften gewandelt.

Ihr Verein hat stolze 750 aktive Mitglieder in 48 Gemeinden. Wie erklären Sie sich den Erfolg Ihrer Arbeit?

Becker: Viele Ehrenamtliche in unserer Verbandsgemeinde wollten sich den Herausforderungen aktiv stellen. Nur fünf Jahre nach unserer Vereinsgründung hatten wir bereits über 900 Mitglieder – die meisten davon sind über 60 Jahre alt – aus nahezu allen Gemeinden aufgenommen. Das entspricht immerhin schon mehr als vier Prozent der Gesamtbevölkerung. Ich denke den Erfolg haben wir sowohl einer guten Öffentlichkeitsarbeit und natürlich unseren angebotenen Hilfeleistungen für die Vereinsmitglieder zu verdanken. Dazu gehören etwa hauswirtschaftliche Tätigkeiten, Haus- und Gartenarbeit, begleitende Fahrten zu Ärzten und beim Einkauf, Entlastung der Pflegenden bei Pflegebedürftigkeit von Familienangehörigen durch stundenweise Besuchsdienste etc.

Seit 2017 betreibt der Verein auch einen Bürgerbus, der die Mobilität aller Menschen in der Verbandsgemeinde, besonders aber der Älteren verbessert. Der Bus steuert dank 17 ehrenamtlicher Bürgerbusfahrer regelmäßig einmal pro Woche alle Orte unserer Verbandsgemeinde an und befördert etwa 100 Personen pro Monat.

Einfach mal ein Schwätzchen halten

Wie hat sich die Corona-Pandemie auf die Vereinsarbeit bisher ausgewirkt?

Becker: Zunächst einmal mussten viele Angebote, so etwa auch der Bürgerbus aufgrund der Enge im Fahrzeug, eingestellt werden. Gleichzeitig haben sich aber mit Beginn der Corona-Krise von sich aus rund 20 Personen im Alter zwischen 20 und 40 Jahren gemeldet, die aktiv bei unseren Lebensmittellieferungen mitwirken wollten – ein Angebot, das aufgrund der Kontaktbeschränkungen aufgebaut haben. Dies taten sie konstant über 13 Wochen hinweg. In der Außenwahrnehmung wurde die Arbeit des Vereins also vor allem auch bei jüngeren Menschen stark wahrgenommen.

Da unsere meisten Vereinsmitglieder im Rentenalter sind und somit zur Risikogruppe gehören, kamen aus ihrer Mitte immer wieder Impulse, die die Macher des Vereins dazu angeregt haben, sich etwas gegen die Isolation einfallen zu lassen. Also schenken engagierte Menschen ab sofort anderen Menschen in der Verbandsgemeinde Daun „ihr offenes Ohr“. Denn oft hilft es schon, mit jemandem vertraulich zu reden, sich über die eigenen Anliegen und alltäglichen Gedanken auszutauschen - oder eben einfach mal ein Schwätzchen zu halten. Anna Utters, Ureiflerin mit Organisationstalent, war sofort Feuer und Flamme für diese Idee und hat spontan die organisatorischen Grundlagen mitentwickelt, um regelmäßige Telefonkontakte zu den Betroffenen aufzubauen. Rund 120 Personen sind über das Telefon bereits erreicht worden. (Anmerkung: Einen Bericht von Anna Utters über ihre Arbeit finden Sie im nebenstehenden PDF-Dokument).

Neben solch positiven Entwicklungen, was gehört zu den schönsten Erfahrungen in Ihrer Zeit seit Gründung des Vereins?

Becker: Zu meinen schönsten Erfahrungen gehört, dass viele Menschen gemeinsam lernen, wie das Zusammenleben besser gestaltet werden kann, und dass unter ihnen eine große Offenheit für Potenziale und Ideen besteht.

„Den gemeinsamen Wandel in die Herzen und Köpfe der Menschen pflanzen“

Sie möchten mehr generationenübergreifende Angebote aufbauen. Welche Herausforderungen sehen Sie dabei?

Becker: Ich wünsche mir, dass in jedem Ort immer mehr Menschen nachbarschaftliche Aufgaben wahrnehmen wollen und die Zahl der Kümmerer steigt. Den gemeinsamen Wandel in die Herzen und Köpfe der Menschen zu pflanzen, ist eine Herausforderung, die uns sicher weiterhin begleiten wird.

Wie sind Ihre Kommunikationsstrukturen innerhalb des Vereins, aber auch in die einzelnen Gemeinden hinein? Wie erfahren Sie davon, was wo am dringendsten gesucht bzw. gebraucht wird? Und wie entsteht die Motivation zu handeln?

Becker: Wir haben unsere Initiativen in fast hundert Informationsveranstaltungen vor Ort – in einigen sogar mehrmals – vorgestellt. Gängige Denk- und Handlungsmuster konnten unter anderem durch 18 Zukunftskonferenzen und -werkstätten in den Dörfern erfolgreich durchbrochen werden. Die Menschen erleben Selbstwirksamkeit und beginnen dadurch auch selbst zu handeln.

Durch die Zukunftskonferenzen sind Arbeitsgruppen entstanden. In diesen werden die Schwerpunkte für ein Dorf gemeinsam ausgearbeitet und dann auch selbstständig und eigenverantwortlich in den Dörfern umgesetzt. Aufgrund der Vielzahl der bearbeiteten Themen in den Dörfern gehen wir davon aus, dass bisher ca. 100 Gruppen entstanden sind. Schätzungsweise rund 5000 Menschen, das sind ca. 22 Prozent der Einwohner der Verbandsgemeinde, haben sich insgesamt beteiligt. So sind etwa Jungendräume neugestaltet oder neu eingerichtet worden, Dorfgärten wurden angelegt und Beteiligte in Pflanzen- und Samenkunde unterrichtet, sodass zum Beispiel altes Saatgut wieder eingeführt wurde. Des Weiteren wurden Mundartgruppen mit regelmäßigen Treffen initiiert und Seniorinnen und Senioren in Aktionen des Dorfes mit einbezogen, mit dem Ziel, Wissen und Erfahrungen der Seniorengeneration an die jüngere Generation weiterzugeben.

Unsere Steuerungsgruppe, die zugleich das Rückgrat der Sorgenden Gemeinschaften bildet, trifft sich regelmäßig zu moderierten Workshops und Sitzungen. Sie analysiert anhand messbarer Erfolgsindikatoren die Fortschritte in den einzelnen Orten. Wenn nötig, passt sie die entsprechenden Maßnahmen an und koordiniert zudem die sich gegenseitig verstärkenden Aktivitäten in den Gemeinden.

Vereinsangebote, die Unternehmen und Jugendliche ansprechen

Welche sind Ihre nächsten Ziele, die Sie sich für die Zukunft gesteckt haben?

Becker: Durch die regelmäßige Evaluierung unseres Prozesses haben wir festgestellt, dass es dem Verein Bürger für Bürger nicht gelingt, Unternehmerinnen und Unternehmer erfolgreich anzusprechen und für die Ziele unseres Vereins zu begeistern. Während die Kommunalverwaltung und Zivilgesellschaft gut und erfolgreich eingebunden sind, um Sorgende Gemeinschaften zu etablieren, schaffen wir es trotz vieler Anläufe nicht, Unternehmen zu gewinnen. Offensichtlich sprechen wir weder deren Sprache, noch haben wir Themen und Angebote, die für Menschen in der Führungsebene von Unternehmen überhaupt von Interesse sind. Insbesondere die grundlegenden Anreize, warum Unternehmen ehrenamtliches Engagement fördern, sind uns noch nicht vollumfänglich bewusst. Wir empfinden dies zunehmend als Mangel, da uns klar ist, dass Unternehmen maßgeblich dazu beitragen, junge Menschen und Familien in der Region zu halten. Denn junge Leute werden nur bleiben, wenn sie sowohl Arbeitsplatz- als auch Rückkehrperspektiven aufgezeigt bekommen. Es wird also nicht ausreichen, wenn wir allein in den Dörfern „Sorgende Strukturen“ aufbauen.

Von Dezember 2019 bis Ende Februar 2020 haben wir deshalb beispielhaft fünf Unternehmen unterschiedlicher Größe und Ausrichtung aus der Region kontaktiert und in Einzelgesprächen Fragen erarbeitet wie: Was erwartet Ihr Unternehmen von uns, damit Sie sich in den Prozess eingliedern und diesen unterstützen können? Was ist Ihr Anreiz und worin sehen Sie Ihren Nutzen bei der Mitarbeit im Prozess?

In einem zweiten Schritt möchten wir unseren Gesprächspartnern die Ergebnisse unserer Analyse in gemeinsamer Runde vorstellen, um das Angebot des Vereins an die Unternehmen zu präzisieren und anzupassen. Ziel ist es, eine unternehmensorientierte Kommunikationsstrategie zu entwickeln, in der ein an die Bedarfe der Unternehmen und ihrer Mitarbeitenden angepasstes Leistungsangebot von unserer Seite vorgestellt wird. Danach möchten wir aus unseren Kontakten Botschafterinnen und Botschafter gewinnen, die als gesellschaftlich anerkannte Unternehmerpersönlichkeiten das Vereinsangebot von Bürger für Bürger einem größeren Kreis von Unternehmern in der Region vorstellen.

Darüber hinaus analysieren wir aber auch die Möglichkeiten, unsere Vereinsaktivitäten noch stärker auf Jugendliche auszurichten.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Becker

 

Weitere Informationen auf der Webseite des Vereins oder über die Projektdarstellung auf der Webseite der Landesinitiative
Auch zur Genossenschaft in der Gemeinde Gillenfeld erfahren Sie hier mehr.