In der knapp 7000 Einwohner zählenden Stadt im Landkreis Mainz-Bingen existiert neben der klassischen Volksbank und Sparkassenfiliale eine Bank, der etwas anderen Art. Nicht Geld ist hier von Wert, sondern Zeit, die man von anderen in Anspruch nimmt oder schenkt und die von einem Verein verwaltet wird. Im Interview mit der 1. Vereinsvorsitzenden Heike Borgs-Osten und dem stellvertretenden Vorsitzenden Harro Krische erfahren Sie wie Konto, Gutschriften, Schecks und ein Sozialfonds mit Zeitkontingenten gefüllt werden. Außerdem berichten die 59-jährige Buchhändlerin und Netzwerkerin im Verein sowie ihr 73-jähriger Kollege, der Chemiker in Rente und im Verein aufgrund seiner handwerklichen Fähigkeiten ein gefragter Mann ist, unter anderem, wie die Zeitbank entstanden ist und welche weiteren Angebote der Verein auf die Beine stellt.
Heike Borgs-Osten und Harro Krische
(Foto: Christiane Keller-Krische)
Frau Borgs-Osten, Herr Krische, Ihr Verein ZEITBANKplus Gau Algesheim existiert seit 2017. Wie sind Sie gestartet und wo stehen Sie heute?
Borgs-Osten: Die Idee der Zeitbankplus hatten wir über einen persönlichen Kontakt in der benachbarten Gemeinde Gensingen kennengelernt, dort gab es schon einen Zeitbank-Verein. Die Idee hat uns begeistert und wir wollten sie gerne auch in Gau-Algesheim starten. Die Gründungsveranstaltung fand dann im August 2017 mit 18 Personen statt. Mittlerweile ist der Verein auf 33 angewachsen.
Die eigentliche Idee des Systems Zeitbank stammt jedoch aus Österreich. Dort wurde es von der Dachorganisation SPES entwickelt und verbreitet sich seitdem weiter. Heute gibt es knapp 20 Zeitbankvereine und eine zentrale Koordinierungsstelle in Deutschland. Diese hat uns auch bei der Vereinsgründung beratend zur Seite gestanden.
„Im Mittelpunkt steht einzig und allein der Mensch“
Krische: Der Verein ist seit seiner Gründung gut im Ort vernetzt. Er ist Mitglied der Sorgenden Gemeinschaft Gau-Algesheim und bei der städtischen Gemeindeverwaltung bekannt. Die Verwaltung steht uns wohlwollend gegenüber und stellt uns z. B. auch einen Raum für Versammlungen und Veranstaltungen zur Verfügung. Ansonsten sind wir aber unabhängig von jeglicher parteipolitischen, konfessionellen oder kulturellen Bindung. Im Mittelpunkt steht einzig und allein der Mensch.
Was machte die Gründung einer Zeitbank so lohnenswert?
Borgs-Osten: Einerseits ist es die Vielfalt der Tätigkeiten, die durch die kleinen nachbarschaftlichen Hilfeleistungen erbracht werden können, von handwerklichen Reparaturen im Haus, Gartenarbeit, Haushalts- und Elektrogeräten-Checks, Fahrdiensten zum Arzt oder Bahnhof, Hilfe bei der Steuererklärung oder einen Kuchen zu backen – und diese können durch ein neutrales Medium, die Zeitschecks, miteinander getauscht werden.
Kirsche: …andererseits bieten wir einmal im Monat öffentliche Veranstaltungen, die im Amtsblatt angekündigt werden und zu denen auch Interessierte kommen können, die keine Vereinsmitglieder sind. Dort werden dann z. B. Vorträge, Buchvorstellungen, Kalligraphie-Schnupperkurse etc. angeboten. Ziel ist es hierbei vor allem, dass Treffpunkte existieren, damit Menschen nicht vereinsamen, dass sie neue Anregungen bekommen und neue Menschen kennenlernen können, was insbesondere auch für Zugegezogene wichtig sein kann.
Wofür haben Sie das letzte Mal über Ihr ZEITBANKplus-Konto Zeit in Anspruch genommen und Zeit geschenkt?
Borgs-Osten: Ich habe ein Mitglied beim Umzug unterstützt.
Krische: Ich werde öfter zu handwerklichen Tätigkeiten angefordert, wenn z. B. wieder ein Rollladengurt gerissen ist. Selbst habe ich mir bei der Entsorgung von Grünschnitt helfen lassen.
Niedrige Beiträge, kostengünstige Zeitpakete und Stundenspenden
Wie teuer ist die Vereinsmitgliedschaft bei Ihrer Zeitbank?
Krische: Wir haben einen Monatsbeitrag von drei Euro. Das ist sehr niedrig ist. Er wird hauptsächlich für die Haftpflicht- und Unfallversicherung der Mitglieder benötigt. Da wir praktisch kaum Ausgaben haben, kommen wir damit aber gut über die Runden.
Wie genau funktioniert die Zeitbank?
Borgs-Osten: Jeder, der neu in den Verein eintritt, erhält eine Gutschrift von fünf Stunden. Wer Tätigkeiten anbietet, häuft die Stunden auf seinem Konto an und kann sie dann für Hilfe durch andere wieder einsetzen. Je nach Aufwand der Tätigkeit gibt es entsprechend Stundengutschriften. Wer mehr Stunden benötigt, kann auch im begrenzten Maß Stundenpakete mit fünf Stunden zukaufen, die dann 3,80 Euro je Stunden kosten. Es gibt zudem einen Sozialfonds im Verein, das heißt Stunden, die z. B. Angehörige von verstorbenen Mitgliedern spenden, können wir dann an Mitglieder verteilen, die eher mehr Hilfe benötigen als sie anbieten können.
Krische: Die Art der Angebote legt jedes Mitglied für sich selbst fest, ganz nach seinen Neigungen und Fähigkeiten. Selten werden Angebote oder Nachfragen auch im Vorstand besprochen. Für gewisse Handwerks- oder Gartentätigkeiten gibt es zudem einen Pool an Geräten, die bei einzelnen Mitgliedern lagern und dort ausgeliehen werden können.
Kommunikation über diverse Kanäle
… und wo können Anfragen und Angebote abgegeben werden?
Borgs-Osten: Alle Mitglieder haben einen Zugang zu einem Computerprogramm, auf dem Angebote und Gesuche eingestellt werden können, es können aber auch Anfragen über einen E-Mail-Verteiler oder die WhatsApp-Gruppe gestellt werden. Wer sich angesprochen fühlt kann dann direkt Kontakt mit dem Suchenden aufnehmen und konkrete Termine vereinbaren. Darüber hinaus gibt es auch die Möglichkeit den Vorstand direkt anzusprechen.
Gibt es Angebote, die auch von den klassischen nachbarschaftlichen Hilfen abweichen?
Krische: Ja. Wir haben z. B. in Absprache mit der Stadt die Begrünung auf dem Marktplatz erneuert, in den Kindergärten Spielzeug repariert und gerade kürzlich auf Anfrage der Kindergärten einen Reparaturvormittag für Eltern mit ihren Kindern und deren Spielzeug durchgeführt.
Gut durchmischt: Mitglieder und Vorstand
Sie schreiben auf Ihrer Webseite „Wir sind offen für Alt und Jung, Frauen und Männer, Eltern, Kinder, Pensionäre, Berufstätige, Gestresste und nach sinnhafter Arbeit und Betätigung Suchende.“ Trifft dies auch auf Ihre Mitgliederstruktur zu?
Borgs-Osten: Ja, die Mitglieder sind etwa je zur Hälfte Männer und Frauen. Die eine Hälfte ist noch berufstätig, die andere Hälfte sind Rentner. Unser jüngstes Mitglied ist im Rahmen einer Familienmitgliedschaft mittlerweile 16 Jahre, das Älteste Mitte 80. Wir sind ganz gut durchmischt. Das Durchschnittsalter liegt dennoch eher bei 50 als bei 40 Jahren.
Krische: …und auch der Vorstand ist ganz gut durchmischt. Zurzeit setzt er sich aus drei Frauen und drei Männern zusammen, fünf davon sind berufstätig.
Wie gewinnen Sie neue Mitglieder?
Borgs-Osten: Wir versuchen Mitglieder über unsere öffentlichen Veranstaltungen, die Ankündigung in den Stadtnachrichten, Interviews und durch Mund-zu-Mund-Propaganda zu gewinnen.
Gemeinschaftsaktionen und Zukunftspläne
Gibt es auch gemeinsame Unternehmungen für alle Vereinsmitglieder?
Borgs-Osten: Es ist nicht immer einfach für so viele unterschiedliche Personen und Persönlichkeiten die richtigen gemeinschaftlichen Angebote herauszufinden. Im Laufe der Zeit haben sich allerdings ein paar besonders beliebte Termine herauskristallisiert, dazu gehören unsere Leseabende mit unserer Buchhändlerin vor Ort, Kegelabende, das alljährliche Sommerfest und Vorträge zu den unterschiedlichsten Themen.
Gibt es Pläne für die Zukunft, die Sie umsetzen möchten?
Krische: Langfristig würden wir gerne ein Reparaturkaffee für Gau-Algesheim einrichten. Bisher fehlen uns dafür aber noch ein paar Experten und Organisatoren.
Vielen Dank für das Gespräch Frau Borgs-Osten und Herr Krische!
Weitere Informationen und den Kontakt zur Zeibbank finden Sie auf unter der Selbstdarstellung des Projektes auf der Webseite der Landesinitiative oder der Vereinswebseite.