Zunächst befristet auf zwei Jahre will Christina Werling in Vollzeit dafür sorgen, das Angebot nicht nur stadtweit bekannt(er) zu machen, sondern genügend Freiwillige zu finden und zu schulen, damit die Nachbarschaftshilfe auf immer mehr Beinen steht. Im Interview erläutert die 27-jährige Sozialarbeiterin und Koordinatorin der Nachbarschaftshilfe nicht nur ihre eigene Motivation und die der Kommune, sondern auch, wie die neu strukturierte Nachbarschaftshilfe organisiert ist und arbeiten wird. Sie berichtet von ersten Erfahrungen, Plänen und wie wichtig Netzwerkarbeit für ein solches Vorhaben ist –ein Grund, weshalb die Nachbarschaftshilfe Speyer auch Mitglied der Landesinitiative ist.
Christina Werling (Foto: privat)
„Ältere Menschen aus der häuslichen Isolation zu holen, ist mir eine Herzensangelegenheit“
Frau Werling, Sie sind erst seit einem guten halben Jahr für die Nachbarschaftshilfe Speyer tätig. Wie sind Sie dazu gekommen und was war Ihre Motivation?
Werling: Älteren Menschen mit diesem Projekt die gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen, diese aus der häuslichen Isolation zu holen, ist mir wirklich eine Herzensangelegenheit. Die Mischung aus der Zusammenarbeit mit engagierten Bürgerinnen und Bürgern Speyers und mit Seniorinnen und Senioren, die das Angebot gerne in Anspruch nehmen, hat für mich den Reiz dieser Stelle ausgemacht. Es macht auch Spaß ältere Menschen als Helferinnen und Helfer zu gewinnen, die vielleicht sonst auch allein wären und somit etwas Gutes tun können und gleichzeitig selbst mit anderen in Kontakt kommen. Der freiwillige Kontext dieses Projekts grenzt sich klar von meinem vorherigen Berufsfeld in der Kinder- und Jugendhilfe/Familienhilfe ab, in dem oft ein Zwangskontext die Zusammenarbeit erschwert hat.
Das heißt Sie bauen auch die Nachbarschaftshilfe völlig neu auf?
Werling: Das Projekt gab es bis 2017 bereits ca. zehn Jahre unter der Zusammenarbeit des Seniorenbüros und der Pflegestützpunkte. Aufgrund gesetzlicher Neuerungen, die auch eine Schulung der freiwilligen Helferinnen und Helfer voraussetzt, konnte das Projekt nicht weitergeführt werden. Mit meiner 100-Prozent-Stelle, die es für den Aufbau eines solchen Projektes auch braucht, sollte die Nachbarschaftshilfe nochmals neu strukturiert und aufgebaut werden. Meine Stelle ist an das Seniorenbüro angegliedert und ist somit im Fachbereich Jugend, Familie, Senioren und Soziales bei der Stadt Speyer zu finden.
Neue Stellen zu schaffen, in dem Bereich ist ja nicht unbedingt eine Regel. Was verspricht sich die Stadt von dem Projekt?
Werling: Das Angebot soll ein niedrigschwelliges, ergänzendes Angebot für Seniorinnen und Senioren sowie deren pflegende Angehörige sein zum schon bestehenden Hilfesystem in der Stadt – sprich Pflegedienste, Gemeindeschwester Plus und sonstige Hilfen. Die Stadt möchte somit die pflegenden Angehörigen im häuslichen Kontext entlasten, aber auch der Isolation älterer Menschen vorbeugen, die ganz allein zu Hause wohnen.
Etwas konkreter: Zum Beispiel gibt es ja viele ältere Personen, deren Angehörige weiter weg wohnen, deren Partner bereits verstorben sind und die aufgrund des Alters bereits viele Bekannte verloren haben. Hier soll der Vereinsamung vorgebeugt werden. Es gibt aber auch Familien, in denen der demenzerkrankte Elternteil zu Hause mit Pflegedienst versorgt wird, wo es aber an der Zeit mangelt, sich mit der Person außerhalb der pflegerischen Tätigkeiten zu befassen. Wenn hier eine ehrenamtliche Person kommt und einfach mal Spiele spielt oder mit der Person in Ruhe Zeitung liest, können die Angehörigen auch ohne Bedenken einkaufen gehen oder sonstigen Erledigungen nachgehen.
Die Basis: Geschulte Freiwillige für eine aktive und stadtweit bekannte Nachbarschaftshilfe
Was ist Ihr vorrangiges Ziel?
Werling: Mein vorrangiges Ziel bei der Nachbarschaftshilfe ist es, das Projekt in der Stadt bekannt zu machen. Hilfreich war dabei sicher ein Artikel in der „Rhein-Pfalz“, aber auch ich selbst habe mich bereits bei verschiedenen Akteuren vorgestellt, etwa im Stadtteilbüro West und Süd, im Mehrgenerationenhaus und im Nachbarschaftsverein.
Das Gesamtziel ist ja, dass möglichst viele Freiwillige gewonnen und dann auch ausgebildet werden können, damit eine zeitnahe Vermittlung an ältere Seniorinnen und Senioren, die entweder allein zu Hause wohnen oder von Angehörigen versorgt werden, erfolgen kann. Zu dem Angebot zählen kleinere Alltagshilfen wie Unterstützung beim Einkauf, Begleitung zu Arztbesuchen, Post wegbringen, Unterhaltungen, oder gemeinsame Spaziergänge. Sie alle sollen zur Entlastung auch pflegender Angehöriger beitragen.
Dieses Jahr werden wir regelmäßige Schulungsdurchläufe anbieten, sodass immer wieder neue Helferinnen und Helfer vermittelt werden können.
Die Vermittlung wird fachlich begleitet, indem die Ehrenamtlichen regelmäßig die Möglichkeit haben, sich bei Treffen auszutauschen und sich bei Problemen an mich als Fachkraft zu wenden.
Stichwort Schulungen: Wie sind diese aufgebaut?
Werling: Die Schulungen, die ich mit Unterstützung der Nachbarschaftshilfe Ludwigshafen konzipiert habe, bestehen aus 30 Unterrichtseinheiten, einem Erstgespräch, einer Einführungsveranstaltung, einem Erste-Hilfe-Kurs, der über das DRK läuft und drei weiteren Veranstaltungen. Zudem besuchen die Freiwilligen einmal im Jahr eine Weiterbildungsveranstaltung.
Für die Freiwilligen besteht die Möglichkeit die ersten 20 Einheiten zu absolvieren, um als Helfer oder Helferin aktiv werden zu können. Die restlichen zehn Einheiten können dann innerhalb eines Kalenderjahres nachgeholt werden. Somit kommt man gerade Berufstätigen entgegen.
Für dieses Jahr sind vier Schulungsdurchläufe geplant. Der zweite beginnt jetzt Ende Februar mit jeweils einer Nachmittagsveranstaltung pro Woche. Aufgrund der aktuellen Corona-Lage können aber nur maximal acht Personen pro Schulungseinheit teilnehmen, da es in den Räumlichkeiten Personenbegrenzungen gibt. In den Schulungen geht es um Themen wie Krankheitsbilder, Beschäftigungsmöglichkeiten, Reflexionskompetenz, Kommunikation und Konfliktlösung und natürlich das Ehrenamt selbst – was es beinhaltet und was davon ausgeschlossen ist.
Wer „matched“ wird ein Paar – Freiwillige und Hilfesuchende werden vermittelt
Wer macht mit und welche Resonanz gibt es bisher?
Werling: Die Teilnehmenden sind von 30 bis über 70. Dabei gibt es Alleinstehende, Berufstätige, Rentnerinnen und Rentner. Aktuell sind es noch mehr Frauen als Männer. Im nächsten Schulungsdurchlauf sind allerdings ein paar mehr Männer. Die größte Motivation der Freiwilligen ist gerade in Zeiten von Corona, in der viele ältere Menschen zu Hause isoliert von der Außenwelt wohnen, diesen wieder eine schöne Zeit zu bereiten und ihnen somit Gesellschaft zu leisten. Manche waren auch schon in der vorherigen Nachbarschaftshilfe aktiv und möchten jetzt weitermachen.
Aus ersten Rückmeldungen von Helfenden habe ich erfahren, dass es noch etwas schwerfällt, die Hilfe auch wirklich anzunehmen, gerade wenn ältere Freiwillige vermittelt werden. Dafür ist dann aber die kleine Aufwandsentschädigung von sieben Euro je Stunde gut, denn diese bringt die Hilfesuchenden in keine Bittstellerhaltung, sondern bietet die Möglichkeit, sich für die geleistete Unterstützung erkenntlich zu zeigen – zumal viele das Geld auch bei den Pflegekassen abrechnen können.
…und von Seiten der Hilfesuchenden?
Werling: Es melden sich unterschiedliche Hilfesuchende. Etwa Angehörige, die Entlastung brauchen. Sie sind meist sehr eingespannt oder können die Hilfe vor Ort nicht leisten und sind daher dankbar um jede Unterstützung. In diesen Fällen gilt es die Seniorinnen und Senioren von der Hilfe zu überzeugen. Denn Hilfe einzugestehen, fällt nicht immer leicht.
Die Hilfesuchenden, die sich selbstständig melden, brauchen meist einfach nur jemanden zum Reden oder für kleinere Hilfen, wie das Rezept bei der Apotheke einlösen oder zum Arztbesuch begleiten.
Bisher gab es noch keine direkte Rückmeldung von den Hilfesuchenden, da die Vermittlung erst dieses Jahr begonnen hat und die „Matching-Paare“ zunächst einmal vier Wochen Zeit haben, um sich zu „beschnuppern“, danach gibt es ein gemeinsames Gespräch mit mir als Fachkraft, in der evaluiert wird, inwieweit die Hilfe sinnvoll war, angepasst werden müsste oder ob doch eine andere Person passender wäre. Dies ist derzeit noch nicht abgeschlossen. Meine Vermittlungsgespräche zwischen den Helfenden und Hilfesuchenden liefen allerdings sehr positiv, beide Seiten waren offen und lassen die kommenden Wochen auf sich zukommen. Manche haben sich bereits gekannt.
Netzwerke aufbauen und verstetigen – kommunal, regional, überregional
Wie sind Sie verortet in Speyer und auf welche Netzwerke können Sie aufbauen? Wer sind Ihre Unterstützer, auf die Sie zu Beginn Ihrer Tätigkeit besonders setzen konnten?
Werling: Mein Büro ist direkt im Seniorenbüro der Stadt Speyer. Die Zusammenarbeit mit der Leitung ist sehr eng. Das Seniorenbüro unterstützt u.a. auch finanziell bei der Realisierung der Öffentlichkeitsarbeit oder punktuell durch Referentinnen und Referenten bei der Schulung. Auch mit der Gemeindeschwester Plus, die zum gleichen Fachbereich zählt, ist die Zusammenarbeit sehr gewinnbringend, da sie mich auch zukünftig mit der Schulung unterstützen wird. Von Beginn an und noch immer sehr hilfreich ist zudem der Austausch mit der Nachbarschaftshilfe Ludwighafen und der Freiwilligenagentur Speyer. Die Nachbarschaftshilfe Ludwigshafen hat gerade im ersten Schulungsdurchlauf mit ihrer Erfahrung die Schulung inhaltlich bereichern können.
Außerdem ermöglicht mir die Vernetzung mit den Stadtteilbüros einen regelmäßigen Austausch. Dies soll zukünftig zur Realisierung gemeinsamer Projekte beitragen.
Auch der Besuch von Veranstaltungen ist hilfreich. So habe ich etwa an Onlineveranstaltungen der Landesinitiative und auch an der Tagung in Bonn teilgenommen, um mich vernetzen zu können und von anderen Seniorenbüros und deren Angeboten etwas für mich herauszuziehen.
Wie stellen Sie sich die Entwicklung Ihrer Arbeit in den kommenden Jahren vor? Welche Ziele haben Sie sich gesteckt und was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Werling: In Zukunft wünsche ich mir viele neue Matching-Paare, ein regelmäßiges, sich eingespieltes Schulungsangebot und auch die ein oder anderen öffentlichen Auftritte, etwa beim Ehrenamtstag, ein Stand auf öffentlichen Festen in der Stadt oder Veranstaltungen in Zusammenarbeit mit dem Seniorenbüro. Ich hoffe aber auch mit anderen Stellen hier in Speyer weitere gemeinsame Angebote zu erarbeiten.
In den kommenden Jahren möchte ich viele weitere Freiwillige gewinnen und den Kontakt unter den Ehrenamtlichen stärken.
Auf ganz lange Sicht wäre es natürlich toll das Angebot der Nachbarschaftshilfe auch auszubauen, also auch jüngere Generationen zu unterstützen und dabei auch immer bereits in Speyer bestehende Angebote wie die Taschengeldbörse oder die Familienpaten mit einzubeziehen.
Vielen Dank für das Gespräch, Frau Werling!
Weitere Informationen im Projekte-Finder der Landesinitiative oder der Webseite der Stadt Speyer unter den Menüpunkten Nachbarschafshilfe oder Seniorenbüro.