Die Bau AG Kaiserslautern ist das kommunale Wohnungsunternehmen der Stadt und mit rund 5100 Wohnungen größter Vermieter am Markt. Sie hat an bisher zwei Standorten in Kaiserslautern das Konzept von „Nils – Wohnen im Quartier“ umgesetzt. Seit 13 Jahren leitet Gabriele Gehm das Sozialmanagement der Bau AG. Ebenso leitet die 53-Jährige die Projekte „Nils – Wohnen im Quartier“. Im Interview berichtet Sie, wie in der Wohnungsbaugesellschaft die Idee zu Nils gewachsen ist und umgesetzt wurde und welche Strukturen den Erfolg der Wohnprojekte garantieren.
Frau Gehm, wie ist in der Bau AG die Idee zu „Nils – Wohnen im Quartier“ entstanden?
Gehm: Die Landeszentrale für Gesundheitsförderung lud 2012 alle kommunalen Wohnungsunternehmen zu einer Exkursion nach Bielefeld ein. Noch in Bielefeld waren wir, unser Vorstand Thomas Bauer und ich, uns einig: so etwas Ähnliches wie das „Bielefelder Modell“ auch bei uns in Kaiserslautern aufzubauen: eine Wohnform mit Quartiersgedanke!
Vor dem Hintergrund der stetig steigenden Anzahl hochbetagter Menschen und dem Anspruch einer inklusiven Stadtgesellschaft hat sich die Bau AG dazu entschlossen, die innovative Wohnform „Nils – Wohnen im Quartier“ zu verwirklichen.
Eine Sozialraumanalyse ermittelte die Bedürfnisse der Menschen vor Ort in den Quartieren und die sozialen Infrastrukturen. Außerdem wurden Informationen über Lebenssituationen und Bedürfnisse sowie Angebote, Netzwerke und Unterstützungsleistungen erhoben. Die Ergebnisse boten unter anderem einen Überblick über Wohnstrukturen, soziales Engagement und deren Freizeitverhalten und konnten für die neue Wohnform genutzt werden.
Auch in Kaiserslautern gibt es einen nicht unbeträchtlichen Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Gleichzeitig überdeckt diese Mangellage andere wichtige Bedarfe, die sich aus dem demographischen Wandel und auch aus dem Anspruch einer inklusiven Stadtgesellschaft ergeben und stellt Kaiserslautern vor große Probleme. Nicht zu vergessen, der eklatante Fachkräftemangel in allen Bereichen: Umso wichtiger werden nachbarschaftliche Strukturen, ein funktionierendes Gemeinwesen und ein barrierefreier Wohnraum in den Quartieren!
In einer durchmischten Bewohnerschaft soll sich eine lebendige Nachbarschaft entwickeln
Ziel ist eine durchmischte Bewohnerschaft. Der durch den Neubau im Quartier entstandene barrierefreie Wohnraum soll den Menschen ermöglichen auch mit Pflege- und Hilfebedarf im vertrauten Umfeld zu leben und einen Umzug in eine stationäre Einrichtung zu vermeiden oder zu verzögern.
… und wann sind die Wohnanlagen bezogen worden?
Gehm: Unser erster Standort im Goetheviertel war im September 2017 bezugsfertig. Dort leben in 43 Wohneinheiten 84 Bewohner. Die Wohnungen sind zwischen 45 und 114 Quadratmeter groß. Ebenso wie in der Wohnanlage im Grübentälchen, die 2019 mit 54 Wohneinheiten fertiggestellt wurde. Dort leben 107 Bewohner. Zu diesen zwei Standorten sollen aber noch weitere folgen.
Wie ist Ihre Mieterschaft zusammengesetzt?
Gehm: Wir möchten nicht nur Menschen mit Handicap und ältere Menschen ansprechen, sondern alle Alters- und Lebensstilgruppen – sprich Jung und Alt, Singles und Familien, Menschen mit und Menschen ohne Hilfebedarf. In unseren Wohnanlagen leben also Familien, Senioren, Alleinstehende, Menschen mit Beeinträchtigungen oder Krankheiten unter einem Dach. Sozialhilfeempfänger residieren neben Besserverdienern. „Nils“ soll die soziale Bindung in den Quartieren stärken. Eine lebendige starke Nachbarschaft, in der sorgsam miteinander umgegangen wird soll entstehen. Das Dorfleben soll in die Quartiere innerhalb der Stadt getragen werden. Anonymität und Isolation soll entgegengewirkt werden.
Eine „Guud Stubb“ gegen zunehmende Vereinsamung
Und wie wird dieses nachbarschaftliche Miteinander der so unterschiedlichen Bewohnerinnen und Bewohner gefördert?
Gehm: Zunächst einmal richtet sich natürlich auch die Miethöhe nach der Lebenssituation unserer Mieter. Zweidrittel der Wohnungen sind öffentlich gefördert. Hier beträgt der Quadratmeterpreis 5,10 Euro, in den anderen Wohnungen 6,50 Euro. Alle Wohnungen sind barrierefrei und auch das Wohnumfeld ist weitestgehend barrierefrei zu erreichen.
Das Herzstück ist sowohl im Goetheviertel als auch im Grübentälchen die „Guud Stubb“. Diese gute Stube für die Gemeinschaft, die 110 m² groß ist,wurde komplett von der Bau AG eingerichtet und auch die Nebenkosten werden komplett von ihr getragen. Die „Guud Stubb“ ist Treffpunkt, Aufenthaltsraum, Wohn- und Kochküche, Bastelwerkstatt und Café. Dort singt der Hauschor, backen Ehrenamtliche Dampfnudeln, wird ein Yogakurs angeboten. Sie ist am Nachmittag geöffnet für Tanz oder Gangsicherheitstraining, dort trifft sich die Selbsthilfegruppe für Menschen mit Depressionen und ermöglicht der Trauergruppe des Hospizes einen Raum zum Austausch. Es gibt zudem thematische Vorträge, ein Kinderferienprogramm, einen Mittagstisch oder Hilfe im Umgang mit Digitalgeräten und vieles mehr.
Kommen sollen aber nicht nur die Bewohner aus dem Haus, sondern auch Menschen aus dem Viertel, dem Quartier. Der Aktionsradius geht also über die Wohnanlagen hinaus. Denn darum geht es der Bau AG auch: Quartiersentwicklung zu betreiben, behilflich zu sein, damit die Menschen näher zusammenrücken, sich gegenseitig unterstützen und damit auch länger in ihrem gewohnten Umfeld bleiben können. So bemühen wir uns z.B. auch bei Menschen in der Nachbarschaft, die in nicht barrierefreien Wohnungen leben, dass sie aus ihrer alten in eine neue Wohnung bei uns ziehen können und somit auch ihre Chance zu Kontakten wieder steigt.
Das alles ist ein Rezept gegen die zunehmende Vereinsamung. „Wir schaffen Dörfer mitten in der Stadt!“
„Ohne Hauptamt kein Ehrenamt“
Dies ist ja eine breite Palette von Angeboten, die in den Anlagen bereitgehalten wird. Läuft dies alles von ganz alleine?
Gehm: Dafür braucht es zunächst einmal eine besondere Gruppe von Menschen. Die Bewohnerinnen und Bewohner im Neubau werden mit sehr viel Bedacht ausgewählt. Es waren mehr als 200 Einzelgespräche – die Auswahl ist das A und O für das Gelingen. Das Miteinander muss stimmen. Es braucht Hilfenehmer und Hilfegeber. Die junge Familie findet bei „Nils“ leicht die Ersatzoma, der eher zurückhaltende Senior erlebt die Gemeinschaft, für den Rollstuhlfahrer wird der Einkauf erledigt. Und wer nicht kochen kann, dem wird in der „Guud Stubb“ Nachhilfe erteilt. Da helfen die Kümmerer, die es in jedem „Nils“ gibt. Im Goetheviertel sind es 47 Ehrenamtliche, die sich engagieren, im Grübentälchen 21.
Der Motor des Ganzen ist das Quartiersmanagement. In beiden Anlagen arbeitet jeweils eine Quartiersmanagerin, mit festen Sprechzeiten, aber auch einer dauerhaften Erreichbarkeit via Handy. Sie ist Ansprechpartnerin, und Netzwerkerin. Die Quartiersmanagerinnen sind für den Aufbau und die Sicherung einer funktionierenden Gemeinwesenarbeit fundamental wichtig, auch für die Koordination des Ehrenamtes – ohne professionelle Begleitung gibt es keine dauerhafte Stabilisierung. Ohne Hauptamt kein Ehrenamt. Leider werden die Stellen nur drei Jahre gefördert. Die Bau AG finanziert beide Stellen mit je 20 Stunden komplett selbst. Da sollte es eine andere Lösung geben. Das kann auf Dauer keine Lösung sein.
Vieles entwickelt sich unter den Bewohnenden aber auch selbst, etwa beim Benutzen der großzügigen Außenanlagen mit Hochbeeten, Bouleplatz und Staudengärten. Einige Mieter haben auch einen Schlüssel zur „Guud Stubb“, sodass dort auch spontane Treffs stattfinden können.
Ungebrochen großes Interesse an „Nils“-Wohnraum
Gibt es noch weitere Besonderheiten in den Wohnanlagen?
Gehm: Eine Besonderheit sind sicher die Pflege- bzw. Gästewohnungen innerhalb von „Nils“. Die stehen grundsätzlich allen Bürgerinnen und Bürgern offen. Sie können tage- oder wochenweise angemietet werden, zur Kurzzeitpflege oder zum Probewohnen genutzt werden. Dort kann jemand einziehen, der aus dem Krankenhaus entlassen wird und noch Unterstützung braucht. Betrieben werden sie von unserem jeweiligen Kooperationspartner, einem Pflegedienst vor Ort, der für „Nils“ zuständig ist und dort auch sein Büro hat. Dort kann jeder Leistungen zubuchen, von Hauswirtschaft bis hin zur Hilfe bei Körperpflege bis zur Fahrt zum Arzt. Abgerechnet werden kann als Selbstzahler oder über die Kranken- und Pflegekasse.
Aufgrund all dieser Angebote ist das Interesse an einer Nils-Wohnung vermutlich recht groß?
Gehm: Ja, die Nachfrage nach dieser Wohnform ist ungebrochen groß. Derzeit gibt es rund 200 Interessenten. Wer als nächstes zum Zuge kommt, lässt sich nicht ausmachen. Wir achten aber jedes Mal darauf, dass bei einem Wegzug wieder ähnliche Mieter einziehen. Wenn z.B. eine Studentin auszieht, sollte möglichst nicht jemand mit Unterstützungsbedarf einziehen, da die Durchmischung der Mieterschaft irgendwann nicht mehr stimmt. Denn feststeht, dass die ganze Breite der Gesellschaft bedient werden soll. Jede und jeder soll die Möglichkeit bekommen hier zu wohnen. Aber Sozialromantik pur ist auch „Nils“ nicht. Manchmal gibt es natürlich auch hier Reibereien. Das gehört dazu – wie im richtigen Leben.
Frau Gehm, vielen Dank für das Gespräch.
Den Kontakt und weitere Informationen finden Sie auf der Webseite der Landesinitiative, der Webseite zu „Nils – Wohnen im Quartier“ der Bau AG und auf Facebook.