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Projekt des Monats Juli: „Älterwerden in der Grafschaft“ übt „SolidAHRität“

Ein Jahr nach der Flutkatastrophe wurde vieles geleistet an der Ahr, doch Not und Sorgen existieren weiterhin. Das Quartiersprojekt in den Gemeinden der Grafschaft unterstützt „mit offenen Augen und Ohren“ sowie mit vielen Aktionen und Angeboten für die Menschen vor Ort.

Die Grafschaft ist eine verbandsfreie Gemeinde im Landkreis Ahrweiler. Knapp 11.000 Menschen leben in elf Orten mit rund 400 bis 2000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Obwohl nicht direkt an der Ahr gelegen, sondern in direkter Nachbarschaft zu Bad Neuenahr/Ahrweiler am Fluss, war man auch dort vom Starkregen und den verheerenden Auswirkungen im Tal unmittelbar betroffen. Das Quartiersprojekt des Caritasverbandes Rhein-Mosel-Ahr „Älterwerden in der Grafschaft mitgestalten“, das 2019 mit dem Deutschen Nachbarschaftspreis ausgezeichnet wurde, wird seit 2020 von Ann-Cathrin Zinken geleitet. Im folgenden Interview berichtet die 34-jährige Religionspädagogin, die unter anderem im Projekt für die Vernetzung, Koordination und Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist, von den Erlebnissen und Entwicklungen seit der Flutkatastrophe, die nach wie vor das Leben der Menschen dort mit großen Herausforderungen prägt.

 Ann-Cathrin Zinken (Foto:privat)

Frau Zinken, ein Jahr nach der Flut, was lösen die Jahresgedenken-Veranstaltungen bei Ihnen und den Menschen in der Grafschaft aus?

Zinken: Sicherlich bin ich nicht allein, wenn ich sage, dass das vergangene Jahr für uns, die wir im Ahrtal eine Heimat haben, eines der schwierigsten in unserem Leben war. Die Herausforderungen, vor die uns der Wiederaufbau jeden Tag stellt, sind gigantisch. Dabei gerieten die für viele oft traumatischen Erfahrungen der Katastrophennacht aber auch die Bilder aus den ersten Tagen oft in den Hintergrund. Man musste funktionieren, es war schlichtweg keine Zeit, innezuhalten. Der Jahrestag, das große mediale Interesse und die persönliche Rückschau auf den Juli 2021 sind hochemotional und wühlen innerlich enorm auf.

„Eine Marathonstrecke: Die Katastrophe und ihre Nachwirkungen sind noch lange nicht ausgestanden“

Wie geht es heute den Menschen vor Ort?

Zinken: Die Sorgen sind groß, viele Menschen wissen nicht, wie und ob sie den Wiederaufbau finanzieren können. Es scheint mühsam, staatliche Hilfen zu bekommen, die Renovierung der eigenen vier Wände, des Betriebes, der Infrastruktur etc. fordert enorm viel Kraft. Zeit zum Durchatmen, um zur Ruhe zu kommen, ist kaum vorhanden. Zumal sich ja auch das Leben außerhalb des Ahrtals weiterdreht. Da ist ein Krieg, der Sorgen macht, der nächste Winter, der vor der Tür steht. Viele Menschen haben noch allzu präsent, wie sich der Winter 2021 anfühlte, ohne funktionierende Heizungen. Der Grad der Erschöpfung wächst, zu den 134 Toten, die die Nacht des 14./15. Juli 2021 nicht überlebt haben, kommen leider immer mehr, die die Hoffnung verlieren. Das macht uns deutlich: die Katastrophe und ihre Nachwirkungen sind noch lange nicht ausgestanden. Es ist eine Marathonstrecke, auf der wir uns befinden und für die wir alle einen langen Atem brauchen.

Vom Wäschewaschen über Treffpunkte wie die Cafés „Raus aus dem Staub“ oder „Auszeit“ – konkrete Hilfe und offene Ohren sind nach wie vor gefragt

… das hört sich nicht so gut an, sondern sehr herausfordernd. Wer kümmert sich um die Menschen? Welche Angebote gibt es für Sie?

Zinken: Unser Quartiersprojekt ist in Trägerschaft des Caritasverbandes Rhein-Mosel-Ahr e.V.. Dieser hat unmittelbar nach der Flutkatastrophe verschiedene Angebote installiert, die z.B. durch das „Café Raus aus dem Staub“ Seniorinnen und Senioren die Möglichkeit schenken, bei Kaffee und Kuchen zusammen zu sein. Auch finden unsere Frühstücksangebote reges Interesse, ebenso ein Café für Familien mit Kindern. Wir möchten den Austausch untereinander stärken, die Vernetzung zu unseren Fachdiensten im Haus ermöglichen und den Menschen im Kreis Ahrweiler zur Seite stehen.

Ein nicht unerheblicher Teil unserer Arbeit liegt in der Auszahlung von finanziellen Hilfen, wie den Haushaltsbeihilfen. Im persönlichen Gespräch haben wir die Chance, die Sorgen und Nöte der Menschen zu hören und sie zu unterstützen. Die Netzwerkarbeit z.B. mit Psychologinnen und Psychologen von Lebensberatung und Traumahilfezentrum spielt da eine große Rolle.

Vielleicht müssen wir auch noch einmal einen Blick zurückwerfen in den Juli vor einem Jahr. Die Grafschaft, in der sich ihre Nachbarschaftshilfe befindet, schmiegt sich direkt ans Ahrtal an. Wie war die Situation zur Flutkatastrophe?

Zinken: Einige Orte unserer Gemeinde Grafschaft waren vom Starkregen des 14. Juli betroffen. Keller liefen voll, kleine Bäche wuchsen zu starken Strömen mit Wassermassen an. Der Blick ins Ahrtal am Morgen des 15. Juli offenbarte das wahre Ausmaß der Katastrophe. Auf einer Strecke von 40 Kilometern waren Schäden im Tal zu verzeichnen, die bis dahin undenkbar waren. Viele Menschen haben in dieser Nacht und in der Zeit danach Schlimmes erlebt, viele haben ihr komplettes Hab und Gut verloren, zu viele leider ihr Leben.

Gleichzeitig wuchs aber auch mit jedem Tag der starke Zusammenhalt untereinander und das über die Ortsgrenzen hinaus. Das Wort „SolidAHRität“ manifestierte sich.

Die Gemeinde Grafschaft beherbergte zwischenzeitlich u.a. mehrere Spendenverteilzentren, den Helfer-Shuttle, der den Strom Freiwilliger kanalisierte, eine Anlaufstelle für Evakuierte im Bürgerhaus, Übernachtungsmöglichkeiten gab es und vieles Mehr. Dort haben sich immer auch die Menschen aus unserem Quartier mit Ihren Fähigkeiten eingebracht. Nach wie vor sind immer noch viele Einrichtungen in Containern und anderen Übergangslösungen in der Grafschaft untergekommen. So z.B. die Rettungswachen des Deutschen Roten Kreuzes oder Kindertagesstätten aus dem Ahrtal. Dies wird auch auf die nächsten Jahre gesehen sicher so bleiben.

Welche Angebote konnten die Menschen aus dem Quartiersprojekt stemmen?

Zinken: Das waren Angebote ganz unterschiedlicher Art. Mal eine warme Dusche – viele Menschen hatten bis weit in den Winter hinein kein warmes Wasser und keine Heizung – oder ein gutes Abendessen. Mal war es „nur“ ein offenes Ohr, um über Erlebtes zu sprechen. Es wurde Wäsche gewaschen, Kinder wurden betreut und es gab Treffpunkte, die für die Helferinnen und Helfer, für Betroffene, für Alt und Jung organisiert wurden.

Was gibt es heute noch für Angebote?

Zinken: Unser Projekt „Älterwerden in der Grafschaft mitgestalten“ hat im August 2021 zum ersten Mal sein „Café Auszeit“ für Betroffene sowie Helferinnen und Helfer geöffnet. Dies ist eine Möglichkeit über das Erfahrene zu sprechen, zusammenzukommen, gemeinsam Kaffee zu trinken. Das Bedürfnis zusammenzusitzen ist im dritten Jahr der Corona-Pandemie und im nun zweiten Flutjahr sehr groß. Daher findet unser „Café Auszeit“ nun 14-tägig statt. Ebenfalls bietet unser Caritasverband weiterhin Treffen für Jung und Alt an. Diese werden auch auf absehbare Zeit Bestand haben. Besonders in den Tagen rund um den Jahrestag wurde deutlich, dass die belastende Situation für die Menschen in unserem Tal noch lange nicht ausgestanden ist. Viele wissen auch ein Jahr danach nicht, wo sie zukünftig wohnen können, ob das alte Zuhause wieder aufgebaut werden darf und kann. Die Wohnungsknappheit ist ein beherrschendes Thema. Die Tiny-Häuser, die an verschiedenen Standorten aufgestellt werden konnten, bieten nur noch auf eine absehbare Zeit eine Bleibe.

Vernetzungsarbeit: „Oft kleinschrittig und manchmal mühsam, aber zur Verbesserung der Situation im Ahrtal unerlässlich“

Wie erreichen Sie diese Menschen mit ihren Angeboten und welche Rolle spielt die Vernetzung dabei?

Zinken: Bereits in den ersten Tagen nach der Flutkatastrophe sind unsere Kolleginnen und Kollegen durch die Straßen gezogen und haben gehört, wo Hilfe gebraucht wird. Die Schwestern und Pfleger unserer Sozialstation waren ab Stunde Null im Einsatz für unsere Patientinnen und Patienten.

Die Vernetzung mit den Wohlfahrtsverbänden, aber auch z.B. mit Sportvereinen und Initiativen vor Ort, ist eine Fokus unserer Arbeit. Wir arbeiten immer noch nach dem Prinzip „offene Augen und Ohren“, um bedürftigen Menschen, die passenden Angebote zu vermitteln und sind eng vernetzt z.B. mit den Maltesern und anderen Wohlfahrtsverbänden. Diese Arbeit ist kleinschrittig und manchmal mühsam, aber zur Verbesserung der Situation der Menschen in unserem Tal unerlässlich.

Leben mit dem Alltag nach der Katastrophe – Von Containeranlagen, neuen Projekten und digitalen Angeboten

Richten wir den Fokus doch auch noch einmal auf ihre Nachbarschaftshilfe bzw. ihr Quartiersprojekt. Gibt es auch schon wieder so etwas wie Normalität? Woran arbeiten Sie derzeit in der Grafschaft?

Zinken: Wir haben in einen neuen Alltag nach der Katastrophe hineingefunden, ob wir bereits von Normalität sprechen können, vermag ich nicht zu entscheiden.

Aber wir planen ein großes Fest für unsere Ehrenamtlichen und freuen uns darauf, diese nach zweieinhalb Jahren Pandemie endlich alle wiederzusehen. Unser Projekt umfasst rund 80 ehrenamtliche Frauen und Männer, die unser Projekt gut durch die Pandemie getragen haben. Wir können so weiterhin auf unsere Sport- und Spaziergangsgruppen zählen. Wir freuen uns, dass unsere Mittagstische wieder starten und hoffen, dass auch unser Filmcafé demnächst wieder zum gemeinsamen Filmeschauen und zu Vorträgen einladen kann. Unser Reparaturcafé steht ebenfalls in den Startlöchern, aktuell werden die dafür vorgesehenen Räume noch von einer flutbetroffenen Kindertagesstätte genutzt. Die Corona-Pandemie hat aber auch unseren digitalen Angebote nach vorne gebracht. Unser Youtube-Kanal bietet Videos zu verschiedenen Themen, dies sind z.B. die digitale Dorfbühne, bei der regionale Künstler in Wort und Musik aktiv sind, Rundgänge über unsere landschaftlich schöne Grafschaft und auch Sportangebote zum Nachturnen in den eigenen vier Wänden.

Mit Youtube oder Facebook setzen Sie ja auch stark auf digitale Medien. Ist dies auch eine Folge der Pandemie? Wie wird dies angenommen von den Älteren, sind sie mit dabei?

Zinken: Bereits vor Ausbruch der Pandemie waren die Digitalbotschafter Teil unseres Projektes und haben bei digitalen Fragen rund um Smartphone, Tablet und Co. bereitgestanden. Auf dieser Grundlage war es uns möglich, unsere digitalen Angebote ab März 2020 – gezwungenermaßen – auszubauen. Gleichzeitig erlebe ich es als große Chance auch die Menschen zu integrieren, die aufgrund ihrer z.B. eingeschränkten Mobilität nicht oder nur noch selten an unseren Veranstaltungen teilzunehmen.

Wir erleben, dass „unsere“ Seniorinnen und Senioren den digitalen Medien gegenüber offen sind. Messenger-Dienste sind mittlerweile vertraut, auch das ein oder andere Videotelefonat mit den Enkeln hat schon stattgefunden. Die Familie ist da definitiv ein Multiplikator für uns. Ich denke, dass wir auf dem richtigen Weg sind und dieses Feld in den kommenden Jahren weiter ausbauen.

Wie sind Sie organisatorisch im Quartiersprojekt aufgestellt?

Zinken: Unser Quartiersprojekt wird getragen von über 80 Ehrenamtlichen, die im Alter zwischen 40 und 80 Jahren sind. Unterstützt werden diese von zwei hauptamtlichen Kräften: mir, als Projektleitung und meiner Kollegin. Unsere Anlaufstelle im Quartier ist das Seniorenbüro, dass über kleine und große Versammlungsräume verfügt. Von hier aus interagieren wir mit den Menschen in unserem Quartier, bieten Sprechstunden an und schicken unseren regelmäßigen Newsletter per Mail raus.

Darüber hinaus dürfen wir auch die Dorfgemeinschaftshäuser nutzen. Da durch die Flutkatastrophe noch viele dieser Gebäude z.B. durch Kitas oder als Notquartiere genutzt werden, steht uns aktuell eine Containeranlage zur Verfügung.

Welches sind die Probleme bzw. Herausforderungen, die Sie für ihr Projekt sehen und die Sie angehen möchten?

Zinken: Unser Projekt „Älterwerden in der Grafschaft mitgestalten“ spricht vor allem ältere Seniorinnen und Senioren an. „Älterwerden“ verbinden dabei viele leider mit „Altsein“. Dieses Denken möchten wir in den kommenden Jahren aufbrechen, indem wir unsere Angebote so ausrichten, dass sich auch „jüngere Ältere“ angesprochen fühlen. Ein Anfang ist da z.B. mit unserem monatlich stattfindenden English-Circle gemacht. Auch möchten wir unser generationsübergreifendes Angebot weiter ausbauen. Corona hat dies in den letzten Jahren erschwert.

„Gemeinschaft ist das, was durch alle Zeiten trägt“

Was gehört zu Ihren schönsten Erfahrungen in ihrem Projekt, vielleicht auch unterteilt in der Zeit vor den Krisen und nach den Krisen „Corona“ und „Flut“?

Zinken: Da ich selbst die Projektleitung im März 2020 von meiner Vorgängerin übernommen habe, war einer der schönsten Momente als nach dem ersten Lockdown die ersten Gruppen ihre Tätigkeit wieder aufgenommen haben und ich die Menschen im Projekt persönlich kennenlernen konnte. Vorher konnte der Kontakt ja leider nur über Telefon oder E-Mail stattfinden. Damals habe ich erfahren, wie viele wunderbare Menschen Teil des Ganzen sind.

Nach der Flut ist mir besonders eine Veranstaltung in Erinnerung geblieben. Im August 2021 haben wir in Kooperation mit der „Tafel plus“ Jung und Alt zusammengebracht und gemeinsam ein Bienenhotel unter der Anleitung eines ortsansässigen Imkers gebaut und aufgestellt. Das waren damals eine kleine Auszeit als unsere Welt auf dem Kopf stand – auch für mich persönlich.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Zinken: Ich wünsche mir ruhigere Zeiten in der Welt, in der wir leben. Die Pandemie, die Flut und der Krieg in Europa haben auch unser Projekt belastet. Ich wünsche mir, dass wir wieder unbeschwert zusammenkommen können, unsern Alltag mit seinen Sorgen und Freuden in der Gemeinschaft miteinander teilen können. Diese Erfahrung haben wir im letzten Sommer nämlich deutlich machen können: Gemeinschaft ist das, was durch alle Zeiten trägt.

Vielen Dank für das Gespräch Frau Zinken!

Weitere Informationen im Internet:

Youtube „Älterwerden in der Grafschaft online“

Facebook-Präsenz von Älterwerden in der Grafschaft mit Fotos, Angeboten, Videos

Webseite „Älterwerden in der Grafschaft mitgestalten“

Projektdarstellung "Älterwerden in der Grafschaft" auf der Webseite der Landesinitiative