Seit der Vereinsgründung im Jahr 2020 hat sich bei „Wäller Helfen“ viel getan. Aus wenigen Mitgliedern und Engagierten ist heute ein Verein mit rund 240 Mitgliedern erwachsen, über den sich rund 10.000 Engagierte in den unterschiedlichsten Projekten engagieren, die zum Teil weit über die Grenzen des Westerwaldkreises hinausgehen. Immer wieder wird das Engagement der Wäller ausgezeichnet und zieht die Aufmerksamkeit der Medien auf sich. Gründungsmitglied und 1. Vorsitzender des Vereins ist Björn Flick. Der 44-jährige Krankenpfleger und Medizinpädagoge hat gerade erst seinen Job aufgegeben, um den wachsenden Aufgaben im Verein als Hauptgeschäftsführer gerecht zu werden. Denn neben Teamführung, Netzwerk- und Öffentlichkeitsarbeit sind professionelles Finanz- und Projektmanagement, strategische Arbeit und Fundraising notwendig geworden, um den so erfolgreich agierenden Verein in die Zukunft zu führen. „Die Grenze zwischen ‚Hilfe aus Nachbarschaft‘ und ‚quasi-professioneller Sozialarbeit‘ verschwimmt zunehmend“, sagt Flick. Wir wollten von ihm wissen, wo der Verein heute steht, was erreicht wurde und welche Herausforderungen bewältigt werden müssen.
Björn Flick (Foto: privat)
Herr Flick, als wir Sie das erste Mal vor vier Jahren interviewt hatten, existierte „Wäller Helfen“ noch nicht einmal ein Jahr, war aber schon sehr erfolgreich. Was hat sich seitdem getan bis heute, wo der Verein gerade erst sein fünfjähriges Jubiläum gefeiert hat?
Flick: Was in dieser Zeit passiert ist, in und mit unserem Verein, ist unbeschreiblich. Wir sind allein 2022 und 2023 zweimal hintereinander mit dem Deutschen Engagementpreis ausgezeichnet worden, eine einzigartige Ehre, aber auch mit vielen anderen Preisen – unsere Vitrine ist fast schon zu klein für all die Auszeichnungen. Ich glaube, was wir in Rheinland-Pfalz aufgebaut haben und leisten, ist einzigartig. Etwas in der Art, was wir machen, habe ich so auch noch nicht in Deutschland gefunden. Das macht mich schon stolz.
Unbürokratisch Hilfe leisten von der Nachbarschaft über das Ahrtal bis zur Flüchtlingshilfe
Nehmen Sie uns etwas mit in die erfolgreiche Arbeit Ihres Vereins. Was macht ihn so Besonders und wie hat sich die Vereinstätigkeiten in der Zeit entwickelt?
Flick: Behörden kommen oft an ihre bürokratischen Grenzen. Das Besondere bei uns ist, dass wir sehr unbürokratisch arbeiten. Bei unterschiedlichen Anliegen oder Problemen sind wir dann häufig einer der letzten Lösungsmöglichkeiten, wo einfach auch einmal Hilfen ehrenamtlich oder durch Spenden möglich sind.
Womit wir gestartet sind – die typischen Nachbarschaftshilfen – diese laufen natürlich seit Beginn an weiter. Uns erreichen im Monat circa 80 bis 100 Anfragen, die Hälfte davon beziehen sich auf Fahrten zum Arzt oder in Kliniken, bis hin zur Uniklinik Bonn. Hinzu kommen klassische Unterstützungsanfragen wie Rasenmähen, Schneeschaufeln, Hilfe im Garten und Haushalt oder Einkaufshilfen.
Ganz besonders war auch unser Engagement nach der Ahrflut. Wir sind 50 Wochen lang jedes Wochenende mit fast immer 50 Personen, unterstützt von Caterern und Busunternehmen, zur Hilfe an die Ahr gefahren. Medial durch den SWR begleitet, haben wir insgesamt 350.000 Euro Spenden aus ganz Deutschland eingesammelt und bis Anfang dieses Jahres jeden Cent an der Ahr verteilt. Wir können auch wirklich nachweisen, wohin alles ging, beispielsweise an das Seniorendorf und den Tante-Emma-Laden in Dernau, das Helfer-Shuttle, alles Schulen im Ahrtal oder nach Marienthal und vieles mehr.
Auch die Ukrainehilfe hat sich besonders entwickelt. Wir haben seit dem Angriff auf das Land einen direkten Kontakt zu 50 Flüchtlingen aus der Ukraine. Über eine soziale Plattform, die wir aufgebaut haben, haben wir innerhalb von 14 Tagen mehr als 700 private Wohnungen für Geflüchtete aus der Ukraine vermittelt. Insgesamt haben wir 250.000 Euro Spenden für die Ukrainehilfe gesammelt und davon etwa Fahrten mit Kindern und Familien ins Phantasialand organisiert, Schwimmbadtickets verteilt oder Schulranzen für Kinder gekauft.
Zunehmende Professionalisierung des Vereins und seiner Strukturen
Wie haben Sie das alles organisatorisch bewältigt, welche Strukturen wurden aufgebaut?
Flick: Wir haben mittlerweile 240 Vereinsmitglieder, die sich bei uns engagieren, darunter 86 Frauen und 89 Männer. Die restlichen Mitglieder sind Unternehmerinnen und Unternehmer, deren Engagement sich sehr unterschiedlich quer Beet über alle Projekte des Vereins erstreckt.
Unterstützungsanfragen an den Verein werden über eine 24/7 anrufbare Hotline via Callcenter vermittelt, welches diese dann an uns weiterleitet, sodass wir uns danach telefonisch melden können.
Viele, die Unterstützung suchen, oder helfen wollen, werden über die diversen Kanäle, die wir bespielen, wie Facebook, Webseite oder Amtsblatt auf uns aufmerksam, aber wir erreichen auch nicht alle Menschen gleichermaßen darüber. Deshalb haben wir über „Stifter helfen“ eine Nachbarschafts-App generiert und hoffen damit, die Lücke zu schließen. Uns geht derzeit vor allem die Altersgruppe von 20 bis 35 Jahre verloren. Wir haben bisher auch nicht die Zeit dafür weitere Social-Media wie Instagram oder Tik-Tok zu bespielen. Über eine Chat-Funktion der App können Personen Anfragen und Angebote für Hilfen einstellen und die zueinander passenden Leute können sich so auch selbst finden, ohne uns als Vermittler zu benötigen.
Da die Arbeit über die Zeit immer umfangreicher und vielfältiger wurde, war zunächst die Frage, ob wir unsere Tätigkeiten einschränken wollen oder ob wir weiterwachsen. Da Letzteres unser Wunsch war und wir bis dahin viele Treffs bei mir in der Küche abgehalten hatten, war es unser Wunsch, ein eigenes Bürogebäude zu bauen. Dies steht nun seit 2024 und dort arbeitet nun auch ganztags eine Verwaltungsmitarbeiterin für uns. Seit 1. Juni bin ich nun auch hauptamtlicher Geschäftsführer des Vereins.
Einnahmen-Akquise auf unterschiedlichen Ebenen
Wie finanzieren Sie dies alles?
Flick: Wir leben ja rein von Spenden und die Entscheidung, meine Existenz an Wäller Helfen zu binden, war zwar auch nicht leicht, aber letztendlich ist es genau das, was ich wirklich immer machen wollte und auch will. Das heißt, wir müssen die Spendeneinnahmen diversifizieren und neue generieren. Über die 60 bis 90 Euro Vereinsmitgliedsbeiträge ist das nicht zu stemmen und man muss ja auch eine vernünftige Haushaltsplanung über mehrere Jahre hinbekommen.
Zusätzliche Einnahmen generieren wir z.B. über Unternehmensmitgliedschaften, die von 699 bis 1299 Euro dafür bezahlen. Im Gegenzug werden die Unternehmen zertifiziert für soziales, regionales und nachhaltiges Engagement.
Weitere Einnahmen generieren wir über das Aufforstungsprogramm im Westerwald, bei dem wir seit vier Jahren mitmachen und über welches 100.000 Bäume gepflanzt werden sollen. Für jeden gepflanzten Baum erhalten wir 1,50 Euro. Gerade erst haben wir den 81.500sten Baum mit einer Schulklasse gepflanzt.
Natürlich nehmen wir auch an verschiedenen Förderprogrammen teil und tun regelmäßig neue Projekte mit neuen Fördermöglichkeiten bzw. weiteren Förderungen auf.
Ein kurzer Draht zu wichtigen Ansprechpartnern und ein direkter Draht zu „jungen Helden“
Sie haben auf der Vereinswebseite einen eigenen Menüpunkt „Netzwerk“. Wie wichtig ist Netzwerkarbeit, welches sind Ihre wichtigsten Partner und wie arbeiten Sie mit den Kommunen, Landkreisen und Bürgermeistern vor Ort zusammen?
Flick: Das Netzwerk ist enorm wichtig. Wir sind eine bedeutsame Schnittstelle in den Bereichen Gesundheit und Soziales im Westerwaldkreis und darüber hinaus. Kontakte bestehen etwa zu Gesundheitsamt, Jugendamt, Kinderschutz etc.
Wir haben hier in den Kommunen oder auf den Ämtern direkte Schnittstellen und Ansprechpartner, wir kennen uns persönlich und haben einen kurzen Draht, das macht die Sache einfach.
Aufgefallen auf der Webseite von Wäller Helfen ist mir auch, dass es eine eigene Jugendabteilung in Ihrem Netzwerk gibt. Was hat es mit dem Angebot „Wäller helfen jungen Helden“ auf sich und wie kam es dazu?
Flick: Ziel von uns war es, junge Menschen mit sozialem Engagement in Berührung zu bringen, darüber deren Selbstbewusstsein zu stärken und Schlüsselqualifikationen für ein soziales Miteinander zu formen. Wir haben Ende Februar damit angefangen, für auf Jugendliche zugeschnittene Angebote zu schaffen. Etwa Spielenachmittage im Seniorenheim und gerade bauen Sie dort auch ein Hochbeet auf. Auch zu Behinderteneinrichtungen, Kinderheime oder Pflegedienste werden für die jungen Menschen gezielt Angebote generiert.
Mittlerweile haben wir zehn Jugendliche in einem Umkreis von 15 km gefunden, die mit dabei sind und mit uns arbeiten. Ein Problem sind allerdings die langen Entfernungen bei uns im Landkreis, sodass lange Anfahrten natürlich auch ein Hindernis darstellen, um bei der Jugendabteilung mitzumachen.
Durchschlagender Erfolg bei den Mini-Angeboten in der Hauswirtschaft
Gibt es noch weitere neue Projekte, die Sie gerade umsetzen?
Flick: Ja, sehr erfolgreich ist beispielsweise auch unsere Teilnahme an dem vom Sozialministerium aufgesetzten Programm „Kleine Hilfe – Große Wirkung“ für Mini-Angebote in der Hauswirtschaft seit Januar dieses Jahres. Wir haben hier bereits mehr als 50 Kunden gewonnen und mehr als 25 Ehrenamtler, die diese Hilfen im Haushalt wie Kochen, Putzen, Bügeln oder Einkaufsfahrten anbieten. Die Nachfrage an diesen Angeboten explodiert geradezu, sodass wir dies alles gar nicht leisten können und schon eine Warteliste von mehr als 25 weiteren Kundinnen und Kunden haben.
Diese hohe Nachfrage nach solchen Programmen zeigt meiner Meinung nach – und ich komme ja auch aus der Pflege – dass immer mehr Unterstützungs- und Hilfeleistungen von freiwillig Engagierten übernommen werden müssen, da z.B. viele Einrichtungen im Unterstützungs- und Pflegebereich die Arbeit nicht mehr leisten können und leisten können werden, sodass andere diese Jobs übernehmen müssen.
Ständig auf der Suche nach neuen Projekten und Projektideen
Welche Projekte planen Sie zukünftig anzugehen?
Flick: Wir sind immer interessiert an neuen Projekten, die noch keiner so macht. So etwas wie das Flüchtlingscamp, das wir in Moldau gebaut haben, oder den Zeltkindergarten nach dem Erdbeben in der syrisch-türkischen Grenzregion.
Bei einer Preisverleihung im Frühjahr in Mainz haben wir aber auch eine andere ausgezeichnete Idee aus dem Raum Wiesbaden/Mainz aufgegriffen. Dort wurden z.B. Wunschboxen in Altenheimen für Bewohnerinnen und Bewohner aufgestellt, die keine Angehörigen haben, die sich um diese kümmern. Diese Wünsche werden dann veröffentlicht und Freiwillige können sich melden, um diese Wünsche zu erfüllen. Wir wollen dies nun für Behinderten- und Kindereinrichtungen zu Weihnachten in diesem Jahr machen. Dafür wollen wir jetzt eine digitale Plattform aufbauen, was rund 20.000 Euro Kosten wird. Gerade aber haben wir dafür aber schon einen Förderbescheid über 11.000 Euro erhalten.
Weitermachen werden wir auch mit unserer Kulturreihe, bei der wir regionale Bands und Künstler für jeweils vier Kulturveranstaltungen im Jahr gewinnen, auf denen wir dann Spenden für andere Vereine oder Einrichtungen sammeln. Das ist sehr erfolgreich, so haben wir z.B. allein bei einem Konzert 2024 innerhalb von zwei Stunden 6000 Euro Spenden einsammeln können. Wir konzentrieren uns da jedes Jahr auf ein neues Projekt, welches wir mit den Spenden unterstützen. Im vergangenen Jahr haben wir so 10.000 Euro für ein Kinderhospiz gesammelt. In diesem Jahr wollen wir einen Kinderjugend- und Feriendorf-Verein unterstützen.
„Eine Nummer für alles: Es gibt zu viele Doppelstrukturen und Anlaufstellen für die Bürgerinnen und Bürger“
Da Sie ja mit so vielen Akteuren zusammenarbeiten uns so breit aufgestellt sind, wo wünschen Sie sich mehr Unterstützung, was könnte besser laufen?
Flick: Voranstellen möchte ich zunächst einmal, dass wir in der Regel mit allen Akteuren gerne und gut zusammenarbeiten. Aber ich stelle mir auch manchmal die Frage, was freiwilliges Engagement denn noch alles übernehmen soll, weil wir durch unsere Arbeit aufgedeckt haben, dass etwa Infrastruktur fehlt oder nicht passt. Wäre das nicht Aufgabe von Politik, dies zu lösen?
Ist es wirklich unser Job, z.B. Menschen zu einem Herzschrittmacherwechsel an die Uniklinik Bonn zu fahren, weil diese sich eine 600 Euro teure Taxifahrt nicht leisten können, weil kein funktionierender ÖPNV für sie zur Verfügung steht?
Ist es nicht seltsam, dass die Landkreise nach dem Flüchtlingsaufkommen aus der Ukraine nach unserer Plattform gefragt haben, um private Wohnungen zu vermitteln?
Müssen wir eine 24/7-Hotline über einen Verein generieren, bei der sich über 70-jährige hinwenden, weil Sie sonst bei den vielen Zuständigkeiten gar nicht mehr genau wissen, wohin sie sich mit ihrem Anliegen wenden sollen, zumal wenn drängende Fragen auch mal außerhalb klassischer Öffnungszeiten anfallen?
Ich finde, wir müssen dringend gemeinsame Strukturen schaffen, die die Menschen verstehen. Es gibt zu viele Doppelstrukturen und Anlaufstellen. Es sollte eine zentrale Stelle geben, an die sich alle Hilfesuchenden wenden können. Dort muss ein Koordinator sitzen, der dann an entsprechende Stellen weiterleitet. Also eine Nummer für alles. Aktuell sind die Bürgerinnen und Bürger mit den endlos vielen Anlaufstellen, an die sie sich wenden können oder müssen, überfordert.
Insgesamt stelle ich fest, dass Organisationen, Gemeinden etc. sehr gerne von unserer Arbeit profitieren – und das wollen wir ja auch – sobald aber Kritik kommt, verstummen dann auch wieder viele. Ich hätte mich auch darüber gefreut, wenn wir zu unserem selbst finanzierten Bürogebäude etwas finanziellen Zuschuss von der ein oder anderen Gemeinde bekommen hätten, doch da kam leider nichts.
Emotionale Schutzräume für Ehrenamtler und mehr Mut zum Risiko von Verwaltungen und Kommunen
Möchten Sie unseren Leserinnen und Lesern noch etwas abschließend mitteilen?
Flick: Ja, ein Aspekt, der bisher in unserem Gespräch vielleicht zu kurz gekommen ist, betrifft die emotionale Dimension unserer Arbeit – insbesondere die mentale Belastung der Ehrenamtlichen und Koordinierenden. Wir erleben in unserem Verein täglich nicht nur Dankbarkeit, sondern auch viele belastende Einzelfälle, persönliche Schicksale und strukturelle Notlagen. Da geht es um Einsamkeit, Armut, pflegende Angehörige am Limit, Geflüchtete in Angst oder ältere Menschen ohne jedes familiäre Netz.
Unsere Ehrenamtlichen sind mitunter sehr direkt mit diesen Geschichten konfrontiert. Wir merken daher zunehmend, wie wichtig es ist, für diese Engagierten auch emotionale Schutzräume und Austauschformate zu schaffen – z. B. durch Reflexionsabende, Supervision oder niedrigschwellige Gesprächsangebote. Das Thema „Ehrenamt und seelische Gesundheit“ sollte viel stärker in der öffentlichen Diskussion und in Förderprogrammen berücksichtigt werden.
Zudem sehen wir eine Herausforderung darin, mit dem hohen Anspruch an Professionalität und Verlässlichkeit Schritt zu halten, ohne dabei den ursprünglichen, niederschwelligen Geist des Ehrenamts zu verlieren. Die Grenze zwischen „Hilfe aus Nachbarschaft“ und „quasi-professioneller Sozialarbeit“ verschwimmt zunehmend. Das ist auf der einen Seite eine Chance, auf der anderen Seite aber auch eine Gratwanderung.
Lobenswert ist aus unserer Sicht die zunehmende Offenheit vieler Verwaltungen und Kommunen gegenüber neuen Lösungswegen, digitalen Hilfstechnologien und niedrigschwelligen Unterstützungsmodellen – aber auch hier wünschen wir uns oft mehr Mut zum Risiko, wenn es darum geht, innovative zivilgesellschaftliche Ansätze auch institutionell zu fördern.
Vielen Dank für das Gespräch Herr Flick.
Weitere Informationen auf der Webseite des Vereins sowie den Social-Media-Kanälen des Vereins: Facebook, LinkedIn, Instagram sowie über den Projektefinder der Landesinitiative.