Die meisten Menschen verbinden die Flutkatastrophe im Sommer dieses Jahres mit der Ahrregion in Rheinland-Pfalz. Doch viele andere Orte waren ebenfalls betroffen. In Irrel, wo das Caritashaus der Begegnung steht, traten die „Flüsschen“ Prüm und Nims über die Ufer und verursachten auch dort eine Jahrhundertflut mit immensen materiellen und persönlichen Schäden. Rund 150 Gebäude standen unter Wasser. Erst seit Januar 2021 arbeitet Dr. Alexander Knauf als Dienststellenleiter der Caritas in Bitburg, zu der das Caritashaus der Begegnung in Irrel gehört. Neben der Corona-Krise musste der 40-jährige Pädagoge und ehemalige Dozent für soziale Arbeit und Sozialforschung, sich nun einer weiteren unerwarteten Katastrophe stellen. Im Folgenden berichtet er von seinen Erlebnissen und Erfahrungen vor Ort.
Alexander Knauf (Foto: Caritasverband Westeifel)
Herr Dr. Knauf, wie stark waren Irrel und dort das Caritashaus der Begegnung sowie die Westeifel von der Flutkatastrophe betroffen?
Knauf: Sie müssen sich vorstellen, dass wir in unserer Region in der Westeifel, die die Kreise Vulkaneifel sowie Bitburg-Prüm umfasst, von einem Gebiet sprechen, dass so groß wie Luxemburg ist. Rund 150 Gemeinden waren von den Fluten betroffen, Irrel und eine Region rund zehn Kilometer drum herum sicherlich besonders stark. Das Caritashaus der Begegnung in Irrel hat im Gegensatz zu vielen anderen Gebäuden Glück gehabt, da es knapp außerhalb der Überschwemmungszone lag. Viel höher hätte das Wasser aber nicht steigen dürfen…
Die Flut hat zu einer zweigeteilten Dorfgemeinschaft mit „unsichtbar“ Betroffenen geführt
Und wie sieht derzeit die Situation vor Ort aus?
Knauf: Wenn Sie heute in unsere Region kommen, werden sie zunächst einmal äußerlich nicht mehr viel von der Flut sehen, das ist bei uns sicher etwas anders als an der Ahr. Bereits eine Woche nach der Flut war schon sehr viel bei uns aufgeräumt. Es ist in etwa so, dass ein Drittel der Menschen direkt Opfer von den Fluten wurden, zwei Drittel der Bürgerinnen und Bürger waren nicht betroffen. Alle haben direkt mit angepackt, was erklärt, dass alles so schnell aufgeräumt war. Das hat jetzt aber auch perspektivisch zu einer zweigeteilten Dorfgemeinschaft geführt…
Was meinen Sie damit?
Knauf: Hinter den Fassaden sieht alles ganz anders aus. Von außen sieht man den betroffenen Häusern teilweise nicht mehr viel an und viele nicht Betroffene denken, dass den Bewohnerinnen und Bewohnern dort ja geholfen wird. Doch diese haben sich zum Teil in ein Schneckenhaus zurückgezogen und komplett aus der Dorfgemeinschaft herausgelöst. Diese Kluft müssen wir erst einmal schließen. Es herrscht sowas wie eine „unsichtbare Betroffenheit“ im Ort. Viele, vor allem die über 60-Jährigen müssen überzeugt werden, Hilfe anzunehmen. Sie denken und sehen es ja auch durch die Berichterstattung in den Medien: „An der Ahr war ja alles noch viel schlimmer“, und halten eher still mit ihren Sorgen und Problemen.
Was sind denn deren dringendste Probleme und ändert sich nicht auch langsam etwas?
Knauf: Tatsächlich hat ein Fernsehbeitrag, der explizit über unsere Region berichtet hat, schon etwas bewegt. Die Beratungszahlen sind gestiegen. Viele haben zunächst direkte materielle Soforthilfen benötigt und brauchen nachfolgend Hilfe bei der Unterstützung von Anträgen, insbesondere bei der Investitions- und Strukturbank (ISB) des Landes. Zunehmend sind nun aber Unterstützungen bei der emotionalen, psychischen Verarbeitung gefragt.
Aufbau eines zentralen Flutbüros mit gezielten Angeboten
Welche Rolle spielt dabei das Caritashaus der Begegnung?
Knauf: Wir haben dort ein zentrales Flutbüro eingerichtet, da wir so vor Ort, nah an den betroffenen Menschen sind. Denn den Leuten fällt es leichter in dieses Haus zu gehen, wo ja ständig Leute für Treffs und Veranstaltungen hingehen, als auf die Hauptdienststelle der Caritas nach Bitburg zu fahren. Denn diese aufzusuchen, ist mit einer gewissen Scham verbunden. Dort geht man ja nur hin, um nach Hilfe zu fragen, wenn es einem nicht gut geht. In Irrel haben wir so also nun ein Beratungsangebot in das Haus der Begegnung integriert. Schon zuvor gab es dort ja ein vierköpfiges ehrenamtliches Leitungsteam, davon 1 Koordinator, 25 Ehrenamtler sowie eine Verwaltungsangestellte, die die vielen Angebote etwa in den Bereichen Begegnung, Beratung, Bildung oder Gesundheit weitgehend selbstständig mit bedarfsgerechter Unterstützung durch Caritasverband organisiert haben. Aufgestockt haben wir nun das Angebot aufgrund der Flut noch gezielt mit einem Banker, der sich um Finanzielles kümmert, und einer psychosozialen Beraterin. Beide arbeiten in Teilzeit.
Welche Hilfen sind das konkret?
Knauf: Wie schon vorhin erwähnt, ist die Antragstellung für den Wiederaufbau eine sehr konkrete Hilfe. Im psychosozialen Bereich ist es etwa das aktuelle Angebot „Yoga für Kinder“, die immer noch große Probleme mit dem Erlebten aus der Flutnacht haben. Zudem arbeiten wir an einem sozialraumorientierten Projekts, bzw. sozialraumorientierten Maßnahmen. Mit ihnen soll gezielt darauf hingewirkt werden, die Gemeinschaft vor Ort zu fördern. Durch gemeinsame Aktivitäten soll die wechselseitige Befremdung aufgearbeitet werden, die sich durch die unterschiedlichen Formen der Betroffenheit ergeben hat.
Der Caritasverband setzt mobile Teams in den betroffen Regionen ein. Was steckt dahinter bzw. wie kann man sich deren Arbeit vorstellen?
Knauf: Es gibt Leute, die lieber besucht werden, als irgendwo hinzugehen. Ich koordiniere die Mitarbeitenden von den aufsuchenden Dienste sowie der Allgemeinen Sozialberatung, die raus zu den Leuten vor Ort fahren, um mit ihnen gemeinsam Probleme bzw. Bedarfe zu erfassen und Hilfen zu veranlassen. Die Tätigkeiten reichen dabei vom „Zuhören“ über die Bereitstellung finanzieller Hilfen, und die Weiterleitung an Fachdienste bis hin zur Unterstützung bei der Antragsstellung. An allen drei Standorten des Verbandes wurden Fluthilfe-Beraterinnen und -Berater aufgestockt.
„Absprachen sind essenziell“
Wie funktioniert Ihre Vernetzung in den Gemeinden und im Land? Was läuft gut und wo sehen Sie noch Luft nach oben?
Knauf: Als Caritasverband sind zunächst einmal die Hilfen, die wir anbieten, überall gleich. Wir tauschen uns regelmäßig über unsere Erfahrungen aus mit unseren Kolleginnen und Kollegen, die in den Flutregionen von Trier und im Ahrtal arbeiten, wobei eben jede Region völlig anders, von der Flut geprägt ist. Diese ungeahnte Krisensituation bedeutet aber auch, dass wir neue Wege der Kommunikation mit den Kommunen sowie anderen Trägern und Verbänden finden werden müssen.
… und wie sieht dies konkret aus?
Knauf: Normalerweise stehen die Träger der freien Wohlfahrt – sofern sie in identischen Bereichen tätig sind – , in einem Wettbewerb miteinander. Da versucht man natürlich, sich etwa durch besondere Konzepte etc. voneinander abzugrenzen. Hier geht es jedoch um eine akute, bisher in unserer Region nie dagewesene Notlage, bei der Wettbewerbsdenken fatale Auswirkungen hätte. Wenn jemand Hilfe benötigt, dann soll er sie auch bekommen – egal, ob er sich an die Caritas, die Diakonie oder einen der sonstigen Wohlfahrtsverbände wendet. Absprachen sind hier essenziell: Wer kann was leisten? Hinzu kommen aber auch Fragen der Chancengerechtigkeit: Alle Betroffenen sollen die gleiche Chance auf finanzielle Unterstützung haben. Also eben nicht „wer zuerst kommt …“, sondern es muss klar sein, dass zum Beispiel verschiedene Hilfen nur einmal gewährt werden und zwar unabhängig davon, bei welchem Träger ich mich melde. Es wäre fatal, wenn es Betroffene gäbe, deren Schaden überkompensiert würde, während gleichzeitig andere leer ausgingen. Hierbei hilft uns die PHOENIX-Datenbank, in die alle Verbände, aber auch Kommunen etc., ihre Zahlungen an Betroffene eintragen können.
Corona und Flut: Persönlicher Kontakt in der Not ist wichtig – Digitalisierung hilft
Eine Katastrophe kommt ja selten allein, neben der Flut ist auch die Corona-Krise allgegenwärtig. Wie konnten Sie diese Doppelherausforderung bisher handhaben?
Knauf: Nun, Corona war nach Flut bei vielen Betroffenen sicher erst einmal ein zweitrangiges Problem. Wir sind dann allerdings auch wieder auf die Menschen zugegangen und haben erinnert: „Vergesst Corona nicht!“ Dabei haben wir dann Masken und Desinfektionsmittel verteilt. Etwas schwierig gestalten sich allerdings die offenen Beratungsrunden bzw. -angebote, denn wir wissen ja nicht, ob nur fünf oder 20 Personen kommen. So kann es sein, dass womöglich ein geplanter Veranstaltungsraum zu klein ist, um ausreichend Abstand zwischen allen Teilnehmenden zu gewähren. Idealerweise möchten wir natürlich eine Situation vermeiden, in der wir Menschen wegschicken müssen. Trotz Corona bieten wir jedoch auch nach wie vor Face-to-face-Kontakte an, aktuell im 2G-Standard.
Welche Rolle spielen digitale Angebote bei dem Krisenmanagement und beim Kontakt zu den Menschen? Waren und sind sie da gut aufgestellt?
Knauf: Gerade in der Notsituation wollen Menschen zunächst einmal den persönlichen Kontakt. Prinzipiell ist die Digitalisierung natürlich sehr hilfreich, sowohl in der Corona- als auch bei der Flutkrise, etwa bei vielen Anträgen, die gestellt werden müssen. Gerade älteren Menschen fehlt aber oft ein komplettes digitales Equipment, das dazu eigentlich benötigt wird. Also ein Internetzugang, ein Endgerät, ein E-Mail-Account sowie das Online-Banking. Aktuell bringen daher unsere mobilen Teams beispielsweise bei ihren Besuchen ein Diensthandy mit, um darüber einen Hotspot-Zugang zum Netz vor Ort zu gewähren sowie einen Laptop.
Traumaverarbeitung: „Wir brauchen einen langen Atem“ und „müssen seelische Verletzungen anerkennen“
Was schätzen Sie, wie lange Sie noch im Krisenmodus arbeiten werden müssen? Sehen Sie irgendwie Licht am Ende des Tunnels?
Knauf: Das größte Problem war zu Beginn die Angst, die wir den Menschen nehmen mussten: „Für alles wird es eine Lösung geben, wir helfen Euch!“. Seit Ende September, gibt es die Möglichkeit, gezielt Anträge zu stellen. Das hat den Druck vom Kessel genommen, die Leute sind zuversichtlicher geworden. Bei der Traumaverarbeitung wissen wir etwa durch die Erfahrungswerte von Caritas International, dass wir einen langen Atem brauchen, d.h. wir planen aktuell mit Unterstützungsangeboten für mindestens vier Jahre. Wir sind dankbar, dass trotz der Flutkatastrophe unsere normalen Beratungs- und Unterstützungsangebot lückenlos aufrechterhalten werden konnten, was nur durch das große Engagement unserer Mitarbeitenden möglich war.
Was gehört zu Ihren schönsten Erfahrungen, die Sie trotz oder gerade wegen dieser Krisen erlebt haben?
Knauf: Die große Solidarität der Menschen untereinander, hat mich berührt. Das Engagement der Mitarbeitenden, die überall geholfen haben, wo sie gebraucht wurden, war unglaublich. Und die Erfahrung, dass wir konkrete, unmittelbar wirksame Hilfe leisten konnten, gehört sicher auch zu den Erinnerungen, die bleiben werden.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Knauf: Die Öffentlichkeit darf die Probleme der Betroffenen nicht vergessen. Geld hilft beim Wiederaufbau und materielle Schäden können beglichen werden. Seelische Verletzungen aber bleiben bestehen und müssen auch anerkannt werden – das ist ein langer Prozess und es wäre sehr schädlich, wenn Betroffene in ein oder zwei Jahren nicht mehr mit ihren Problemen wahrgenommen, sondern vergessen würden.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Dr. Knauf.
Weitere Informationen zur Flut auf den Webseiten des Caritasverbandes Westeifel und der Gemeinde Irrel und zum Caritashaus der Begegnung auf der Webseite der Landesinitiative bzw. der Webseite des Caritashauses der Begegnung.